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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1) — 1919

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Nr. 41 - Nr. 50 (17. November - 27. November)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43996#0252
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- «r

Endlich waren die Pferde vorgespannt und die ganze Gesell-
schaft setzte sich in den Wagen. Emil kletterte mit Tartaglia auf
den Bock; er fühlte, daß er dort freier atmen konnte, und zudem
hatte er hier Klüber, den er nicht mehr gleichmütig ansehen konnte,
nicht vor den Augen.

kann, aufdrängett. Haltens dke Deutschnatwnalen weiter mit ihm,
veranstalten sie weiter so impertinente Demonstrationen, so brau-
chen sie sich nicht zu wundern, wenn ihnen nicht mehr wie Sams-
tag ein paar Vertreter des Proletariats, sondern Hunderte und
Tausende gegenübertreten. Dann wird allerdings von Rüge „ge-
sahrhalber" nichts mehr zu sehen sein.

Rohrbachsr Straße 13. Täglich
Sonntags geöffnet von
10-12 und 4—6 Uhr. Auskunft in allen Arbsiterrechtssragen.

*
Aus dem ganzen Heimwege hörte Herr Klüber nicht auf zu
reden. Aber er redete ganz allein: niemand antwortete ihm, ob-
gleich niemand mit ihm einverstanden war. Besonders ausführlich
verbreitete er sich darüber, wie unrecht man daran getan, seinem
Rate nicht zu folgen, als er den Vorschlag gemacht, in dem ge-
schlossenen Gartensalon zu speisen. Dann würden keine solchen
Unannehmlichkeiten geschehen sein! Hierauf machte er einige scharfe
und sogar liberale Bemerkungen über die unverzeihliche Nachsicht,
welche die Regietung den Offizieren gegenüber an den Tag lege;
er klagte sie an, daß sie die Disziplin unter ihnen nicht handhabe,
während sie anderseits das bürgerliche Element-in der Gesellschaft
nicht genug respektiere! Daraus-könne mit der Zeit nur Unzu-
friedenheit entstehen und von der Unzufriedenheit bis zur Revo-
lution sei es nicht mehr weit, wie das traurige Beispiel Frankreichs
— (hier seufzte er mitleidig aber streng) — aller Welt so offen-
kundig gezeigt habe. Er setzte jedoch sofort hinzu, dasz er die Ge-
walt respektiere und daß er niemals, niemals ein Revolutionär
werden würde; aber er könne nicht umhin, angesichts einer solchen
Zügellosigkeit seine — Mißbilligung auszudrncken! Dann fügte
er noch einige allgemeine Bemerkungen hinzu über Sittlichkeit und
Unsittlichkeit, über Wohlanständigkeit und das Gefühl der Würde.
Schon während des Spazierganges, den sie vor dem Esten
gemacht, war Gemma offenbar nicht ganz zufrieden mit Herrn
Klüber gewesen — darum hatte sie sich auch, als mache seine Ge-
genwart sie verlegen, in einen: gewissen Abstande von Sanin ge-
halten — aber als er solche „Erklärungen" vom Stapel ließ, da
sing sie augenscheinlich an, sich ihres Bräutigams zu schämen!
Gegen das Ende der Fahrt litt sie ganz entschieden, und obgleich
sie es immer noch vermieden hatte, mit Sanin zu reden, so warf
sie ihm doch plötzlich einen flehenden Blick zu . . . Er seinerseits
empfand mehr Mitleid mit ihr, als Unwillen gegen Herrn Klüber;
ja im Geheimen und ohne es sich ganz zu gestehen, freute er sich
über aö.es das, was an diesem Tage geschehen war — trotz det
Herausforderung, die er am nächsten Morgen zu erwarten hatte.
(Fortsetzung ft-iA)

NszeitNNU

BMSWirLschsftlicheS.
Die Forderung nach Freigabe der Tabakernke. Eine von dem
- Bad. Bauernverein in Bruchsal einberufene und von den Tabak-
pflanzern des bad. Unterlandes außerordentlich stark besuchte Ver-
sammlung befaßte sich mit der Bewirtschaftung der diesjährigen Tabak-
erute. Nahezu alle Orte der Bezirke Bruchsal, Bretten, Eppingen,
Sinsheim, Wiesloch, Schwetzingen, Karlsruhe und Durlach waren ver-
treten. Landtagsabgeordneter Bürgermeister Ziegelmeyer-Langenbrücken
referierte über die bisherigen Verhandlungen mit der Regierung und
der deutschen Tabakhandelsgesellschaft in Mannheim und wies dabei
auf die Schwierigkeiten hin, die von der bad. Regierung, ganz beson-
ders aber von der Reichsregierung in der Freigabe der Tabakernte
gemacht werde. Der nächste Redner, Bergdolt von Nußheim, schilderte
den Schleichhandel, der besonders am Rhein blühe und durch den dem
Staat ein außerordentlicher Steuerausfall entstehe. Auch andere Red-
ner schilderten den umfangreichen Tabakschleichhandel in der Hardt.
Nach längerer Aussprache wurde Landtagsabgeordneter Ziegelmeyer
beauftragt, mit allem Nachdruck die Forderung der Tabakbauern nach
vollständiger Freigabe der diesjährigen Tabakernte bei der badischen
Regierung zu vertreten. Eine entsprechende Entschließung wurde an-
genommen und sofort an das Ministerium des Innern abgesandt.
Beschaffung von Waldsamen. In einer Bekanntmachung weist die
Forst- und Domänendirektion darauf hin, daß in den nächsten Jahren
für die Ausführung der Waldkulturen in Baden das nötige Samen-
und Pflanzmaterial nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht.
Deshalb wird die Selbstgewinnung von Samen und die eigene Er-
ziehung von Pflanzen in größerem Umfang als bisher für dringend
notwendig erachtet.

FrühliNgsWvgen.
Von IwanTurgsnjess.
Aus dem Russischen von Wilhelm Lange.
(12. Fortsetzung.)
Dieser Blick schien den Offizier etwas nüchtern zu machen.
Verwirrt murmelte er einige unverständliche Worte, verbeugte sich
und kehrte zu seinen Kameraden zurück, die ihn mit Lachen und
keisem Händeklatschen empfingen.
Herr Klüber fuhr von seinem Stuhle auf, richtete sich in seiner
ganzen Höhe empor, setzte den Hut auf und sagte mit Würde, aber
nicht allzu laut:
„Unerhört! Unerhörte Frechheit!"
Dann rief er sofort in strengem Ton den Kellner herbei und
forderte unverzüglich die Rechnung — ja noch mehr: er befahl,
daß auf dem Fleck angespannt werde und fügte hinzu, anständige
Leute könnten unmöglich in ein solches Lokal kommen, da man hier
Insulten ausgesetzt sei!
Bei diesen Worten richtete Gemma, welche regungslos auf
ihrem Platze fitzen geblieben war — ihr Busen hob und senkte sich
in wildem Aufruhr — ihrs Augen auf Herrn Klüber und sah ihn
mit demselben zornigen Blick an, den sie dem Offizier zugeschleudert
hatte. Emil zitterte vor Wut.
„Stehen Sie auf, mein Fräulein!" sagte Herr Klüber in dem-
selben strengen Tone. „Es paßt sich nicht für Sie, hier zu bleiben.
Wir wollen uns in die Restauration setzen."
Schweigend stand Gemma auf.
Er bot ihr den Arm, sie reichte ihm den ihrigen und er ging
mit majestätischen Schritten auf die Restauration zu — und sie'
wurden, wie überhaupt seine ganze Haltung, um so majestätischer
und hochmütiger, je weiter, er sich von dem Schauplatz des unan-
genehmen Zwischenfalls entfernte. Ganz bestürzt schlich der arme
Emil hinter ihnen her.
Aber während Herr Klüber dem Kellner feine Rechnung be-
zahlte, dem er zur Strafe für das Vorgefallens auch nicht einen
Kreuzer Trinkgeld gab, hatte sich Sanin rasch dem Tische genähert,
an dem die Offiziere saßen, wandte sich an denjenigen, der Gemma
beleidigt hatte — (er war in diesem Augenblicke gerade- damit be-
schäftigt, seine Kameraden der Reihe nach an der Rose riechen
zu lassen) — und sagte laut auf Französisch:

SsZrale Rundschau.
M Jur Wohnungsnot. Wir haben in Heidelberg eine große
Wohnungsnot. Diese ist hervorgerufen einerseits durch die allgemeinen
Umstande und anderseits auch noch dadurch, daß Heidelberg ein Not-
bezirk ist, weil sich die aus dem Elsaß kommenden Flüchtlinge hier stauen
für die ganz selbstverständlich auch Unterkunft beschafft werden muß.
Wir haben zu wiederholten Malen vernehmen können, daß es oberstes
Gebot der Stadtverwaltung sein müsse, eine Linderung des Notstandes
emtreten zu lassen, so weit dies möglich ist, und daß zu diesem Zwecke
alle Mittel versucht Verden müßten. Dabei versteht man, daß in erster
Linie alle zu Wohnzwecken geeigneten Räume zur Verfügung gestellt,
bzw. hergerichtet werden sollen. Da ist nun die Frage aufzuwerfen,
ob nach der Richtung auch alles geschehen ist, und wir müssen diese
Frage auch gleich mit Nein beantworten. Gar vielfache Anschauungen
und Gegensätze wirken hier zusammen, um eine wirklich durchgreifende
Erfassung aller Wohnräume zu verhindern. Einesteils sind es die
Rücksichten auf die Inhaber von großen Wohnun-
gen (Villen) und anderseits die Sorge, den Zuzug von Gewerbe-
betrieben und damit von Steuerkapitalien nicht zu hemmen. Nun
stehen wir Sozialdemokraten gewiß nicht im Verdacht, daß wir dem
Zuzug von Industrie hindernd im Wege stünden, aber sie darf in der
gegenwärtigen Zeit nicht lediglich auf Kosten des Wohnungs-
marktes erfolgen. Soll überhaupt eine Erleichterung auf diesem
Gebiete geschaffen werden, dann muß als Grundsatz gelten, daß alle
Wohnräume und solche Räume, die zu Wohnzwecken umgebaut werden
können, auch unter allen Umständen zur Verfügung des Wohnungsamtes
bzw. der Wohnungsuchenden gestellt werden müssen. Das ist ein un-
bedingtes Erfordernis in bevölkerungspolitischer, sittlicher und gesund-
heitlicher Hinsicht. Die Klassengegensätze, die ja ein Jahr nach der
Revolution noch in recht krasser Form vorhanden sind, treten auf keinem
Gebiet stärker hervor, als auf dem des Wohnungswesens. Daß auf
der einen Seite sieben-, acht- und neunköpfige Familien , in zwei und
sogar in einem Raume zusammen Hausen müßen, ist keine Seltenheit,
während auf der anderen Seite immer noch Leute vorhanden sind, die
in recht geringer Zahl ganze große Häuser bewohnen. Daß sich ange-
sichts eines solchen Notstandes alle Kreise räumlich einfchränken müssen,
steht außer allem Zweifel. Deshalb müssen alle zu Wohnzwecken ver-
fügbaren Räume hierfür verwendet werden.

UlUWW, K «
s

Heidelberger StsdLtheaLer.
Mittwoch, den 26. Nov. außer Miste „Nm Brunne» vor dem Tors",
Singspiel in 3 Akten von W. Goetzs.
Donnerstag, den 27. Nov. bleibt das Theater geschlossen.
Freitag, den 28. Roo. 9. Vorstellung Miete ö Offenbach - Abend:
'„Fortunios Lied", hierauf „Die Schwätzerin von Saragossa".
Samstag, den 29. Nov. 2. Vorstellung Miste L „Alles um Geld",
ein Stück von Herbert Eulenberg.
Anfang Sonntags bst, Uhr. Wochentags 7 Mr.
Montag, den 1. Dezember VolksvorftsNung zu ermäßigten Preisen.
„Kabale und Liebe". Anfang G/, Ühr.

Alfo wird er sich doch rbshl bei der reichlichen Gelegenheit von
4 Kriegsjahren als solcher bewährt haben? Ganz richtig,
Rüge hat tapfer die Stellung in den heimatlichen Schreibbureaus
gehalten. Die badische Verdienstmedaille hat er sich glücklich er-
worben. Zuletzt hielt er „Aufklärungsvvrträge". Wahrscheinlich
wurde er ausgezeichnet, weil er andere so schön in den Tod hinein-
Zubegeistern verstand. Sein wiederholt geäußerter Hauptschmerz
lag darin, daß er nicht befördert wurde. Dieses, meinte er, sei
für die Autorität gegenüber den Aufklärungsbedürftigen notwendig.
Leder Zoll an Rüge ein Held!
Wes Geistes Kind ist der Herr sonst? Der Schreiber dieser
Zeilen war vor vielen Jahren Kommilitone des Arnold Rüge. Wir
beide waren Schüler des verstorbenen Philosophen Wilhelm Win-
delband. Rüge hatte es glücklich bis zum Leiter der Seminar-
bibliothek gebracht, da wurde er seinen Studiengenossen gegenüber
arrogant. Sein Verhalten zu Windelband war geradezu ekelhaft
unterwürfig. Er wurde nie anders als. mit deutlichen Anspielungen
auf das bekannte Zitat aus „Götz von Berlichingen" bezeichnet.
Streber nach oben, Treter nach unten. Man kennt feine Übeln
Geschichten mit der „Frankfurter Zeitung", mit Professor von
Lilienthal, mit Professor Max Weber. Jeder Zoll an Arnold
Rüge ein nobler Charakter!
Vom Intellekt dieses Herrn braucht man nicht lange zu sprechen.
Durch Windelbands Protektion ist er Privatdozent geworden.
Seitdem Windelband tot ist, geht es nicht weiter. Dafür macht
er den jüdischen Einfluß in der philosophischen Fakultät verant-
wortlich, ohne daß auch nur ein einziger von den in Frage kom-
menden Professoren Jude ist. Seine einzige Leistung war die
Herausgabe einer internationalen Zeitschrift. Der dreimal ein-
geschworene Herold des Nationalismus konnte auch international
kommen, als es ihm eben paßte. Die Zeitschrift war vorzüglich.
Schade, daß sie eingegangen ist. Rüge hat sich freilich an ihr nur
mit der Geistesspende eines belanglosen Vorwortes beteiligt. Die
anderen ließ er dafür ihre Sache desto ausgezeichneter machen.
Jeder Zoll an Rüge ein Geistesriese!
Bisher sprachen wir von Rüge, nicht vom Antisemitismus.
Der ist ohne Frage viel ernster zu nehmen als Rüge und Konsor-
ten. Die Ursachen seiner Entstehung können wir hier nicht er-
gründen. Das ist ein schweres Problem. Die wirklich bedeutungs-
volle Seite dieses Problems liegt für uns aber nicht in der Frage
feiner Entstehung, sondern in der Frage, ob der Antisemitismus
eigentlich die sozial nachteiligen Eigenschaften und Handlungs-
weisen der Juden so sehr verabscheut oder die vorteilhaften und
fördernden. Historisch gibt diese Fragestellung außerordentlich viel
zu denken. Mit den Juden und Semiten des gewöhnlichen Schla-
ges haben sich die alten Völker auf ihre Weise schon vertragen
können. Aber nie haben sie sich zu der Gesinnung und Tat eines
Jesus von Nazareth bekennen können. Die Juden des Mittel-
alters und der neueren Zeit waren wohl auch verachtet, aber so
viel Haß und Schmutz ist kaum auf einen von ihnen geladen wor-
den wie auf Benedikt Springe, einen der erhabensten Charaktere
der Weltgeschichte. Der Antisemitismus des vorigen Jahrhunderts
war giftig und gallig genug, aber kaum ein Jude gewöhnlichen
Formates hat das so verspüren müssen wie Karl Marx, Lassalle
und Heine.
Unter diesem Gesichtspunkt stellen wir uns nun wieder auf
Kleines ein. Bei einem Arnold Rüge ist es ohne weiteres klar,
wohin sein Antisemitismus zielt. Mit dem gewöhnlichen Auswuchs
des Judentums könnte er sich schon auf du und du stellen. Er, der
zuerst die „Frankfurter Zeitung" um Mitarbeit angeht und als die
Bewerbung keinen Erfolg hatte, auf die verjudete Presse schimpft,
ist doch kein besserer Mensch, als ein gewöhnlicher galizischer
Schnorrer, der nach mehrmaligem Abweis seiner Zudringlichkeit
genau so wie Rüge handelt. Er, der sich mit so tapferer Vehemenz
von den besungenen Gefahren des Schützengrabens fernzuhalten
wußte, ist doch keine sympathischere Nummer als ein jüdischer
Drückeberger, dem sein Leben lieb war und der wenigstens nicht
große Worte über den Heldentod anderer machte. Er, der Kol-
legen in höherer Stellung begeifert und verleumdet, weil sie ihn
feiner Vermutung nach nicht avancieren ließen, ist doch
genau derselbe nichtswürdige Patron wie ein jüdischer Schmok
oder Ladenschwengel, der aus verletzter Eitelkeit sich ähnliches
leistet. Er, der sich am Samstag auf dem Ludwigsplah darüber
ereiferte, daß „der Verräter", welcher den Vertrag von Versailles
unterschrieb, „noch nicht totgeschlagen" sei und der in der kritischen
Zeit vor den Folgen einer etwaigen verweigerten Unterzeichnung
laut eigener Ankündigung seine Vorlesungen gefahrhalber einstellte,
ist doch gewiß auch der Ausschussware des Judentums gegenüber
ein moralisch unterwertiges Individuum. Also Grund, hat ein
Arnold Rüge doch sicherlich keinen, um das minderwertige Juden-
tum zu Haffen, und er haßt es auch fraglos nicht. Aber was er
hassen muß, das ist das Judentum, welches sich in Typen wie
Georg Simmel, Karl Marx, Lassalle und den vor-
nehmen Repräsentanten der Wissenschaft, der Politik, des Han-
dels, der Presse manifestiert. Würde er einen Pogrom ganz nach
seinem Belieben leiten können, dann mögen sich die jüdischen Uni-
versitätsprvfessoren und diejenigen christlichen Kollegen, welche er
als Iudenstämmlinge zu bezeichnen pflegt, vorsehen. Auf die
anderen käme es ihm wohl nur pro forma an.
Das find so prinzipielle Fragen, welche sich einem angesichts
der Tatsache, daß ein Arnold Rüge eine politische Rolle spielen
mein Herr, ist eines Mannes von Ehre und der Uniform, die Sie
tragen, unwürdig — und ich komme. Ihnen zu sagen, daß Sie
ein schlecht erzogener Bursche sind!"
Der junge Mann sprang auf, aber ein anderer Offizier, der
etwas älter war als er, hielt ihn mit einer Handbewegung zurück
und nötigte ihn, sich wieder zu setzen; dann wandte er sich an
Sanin und fragte ihn, ebenfalls auf Französisch, ob er ein Ver-
wandter, ein Bruder oder der Verlobte dieses Fräuleins sei.
„Ich bin ihr völlig fremd," antwortete Sanin; „ich bin ein
Russe, aber ich kann eine folche Frechheit nicht gleichgültig ansehen.
Uebrigens ist hier meins Adresse; der Herr Offizier wird mich zu
Linden wissen."
Mit diesen Worten warf Sanin seine Visitenkarte auf den
Tisch und ergriff mit einer raschen Bewegung Gemmas Rose, welche
einer der Offiziere auf seinen Teller hatte fallen lasten.
Der junge Mann machte einen neuen Bersüch, aufzuspringen,
aber sein Kamerad hielt ihn abermals zurück, indem er zu ihm
sagte: „Dönhos, sei still!"
Dann stand er selbst auf, legte die Hand -an den Schirm sei-
ner Mütze und sagte zu Sanin — nicht ohne einen Anflug von
Achtung in Stimme und Manieren — daß morgen früh ein Offi-
zier seines Regiments die Ehre haben werde, sich ihm in seiner
Wohnung vvrzustellen.
Sanin antwortete mit einer leichten Verbeugung und eilte zu-
rück zu feinen Freunden.
Herr Klüber tat, als ob er nichts gemerkt hätte, weder von
Sanins Abwesenheit, noch von seiner Unterredung mit den Herren
Offizieren. Er drängte den Kutscher, der bereits die Pferde an-
spannte, zur Eile und geriet sehr in Zorn über feine Langsamkeit.
Gemma sprach kein einziges Wort mit Sanin — ja sie sah ihn nicht
einmal an. Aber ihre zusammengezogenen Brauen, ihre bleichen,
zusammengepreßten Lippen, selbst ihre Unbeweglichkeit ließen deut-
lich erraten, was in ihrer Seele vorging. Nur Emil verlangte
augenscheinlich mit ihm zu reden und ihn auszufragen; er hatte
gesehen, wie er ihnen Mas Weißes — ein Stück Papier, einen
Zettel oder eine Visitenkarte gegeben . . . Heftig pochte dem armen
LAraben das Herz, seine Wangen brannten, er hätte sich Gamin
um den Hals werfen und in Tränen ausbrechen, hätte sich mit ihm
augenblicklich aus diese widerwärtigen Offiziere stürzen mögen, um
sie zusammenzuhauen! Aber er hielt an sich und begnügte sich
damit, aufmerksam jeder Bewegung seines edlen russischen Freuu-

ßH
2. Matt. — WrLiWsch, 26. KsvsmZer 1818

AmrsW RNgeandere
BsilMtfWeitLK.
B. A.
Der 22. November ist ein Festtag für die Universität Heidel-
berg. Auf diesen Tag fällt die offizielle Uebernahme des Rekto-
ratsamtes durch den neugervählken Rektor. Er macht bei dieser
Gelegenheit von seinem Vorrecht Gebrauch, eine Abhandlung aus
seinem speziellen Fachgebiet vorzutragen. Die Feier verlief würdig
und eindrucksvoll.
Man dachte, als man herausläm, an nichts Böses. Da wur-
den einem von fünf bis sechs Personen Flugblätter in die Hand
gedrückt. „Deutschland den Deutschen" trägt dieses Elaborat als
Motto, und es fordert am Schluß zum Eintritt in den „Deutschen
Schutz- und Trutz-Bund" auf. Man weiß also in allem Wesent-
lichen seinen Inhalt. Die Masse vor der Universität zerstreute sich
nicht. Instinktiv ahnte man, daß noch etwas kommen werde. Und
gleich turnte auch ein junges Herrchen auf den Sockel des ehe-
maligen Kaiser Wilhelm-Denkmals und schwang mit dem Munde
eine große Rede, mit der Faust einen noch respektableren Knüppel.
Drei oder vier ebenso junge Herrchen turnten ihm nach und ließen
desgleichen das Flackerlichtlein ihres ur-ur-urteutschen „Geistes"
leuchten. Natürlich: an allem Unglück, das über uns gekommen
ist, sind die Juden schuld und der Riesengipfel cmmaßlicher Her-
ausforderung besteht, nach der „Meinung" besagter Herrlein darin,
daß Hindenburg und Ludendorfs sich-vor einem parlamentarischen
Untersuchungsausschuß zu verantworten haben, der mit einigen
Juden besetzt ist. Daß diese, Dr. Cohn und Sinzheimer, bei der
Mitwirkung am Untersuchungsverfahren selbstverständlich nicht im
mindesten jüdisch-nationale Interessen vertreten, daß sie innerlich
überhaupt dem Judentum so fernstehen wie sonst gebürtige Deutsche,
ist eine Einsicht, die vorläufig noch nicht in die Schädel der jungen
Straßencicervs paßt. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis
die Herren es sich nicht mehr so bequem machen, Reden noch dem
Schema eines Schlagwortverzeichnisses zu halten, bis sie sich die
«erforderlichen wirtschaftlich-politischen Kenntnisse angeeignet haben.
Das kommt schon allmählich, wenn man selbst im Erwerbsleben
steht, aber auch nicht früher. Um etwas von der „nationalen
Schande", von der „völkischen Schmach" und dergleichen heraus-
zubringen, kann ich mir einen Papagei abrichten und um jemand
mit dreckigen Anwürfen zu bekoten, braucht man nur ein Schweine-
hund zu sein. Wir können es den jungen Herrchen selber über-
lasten, sich darüber zu entscheiden, wie lange ihnen die Inkorpo-
rierung dieser Tierkombination Spaß macht. In eine Polemik
gegen sie wollen wir nicht eintreten.
Selbst der Chorus ihrer Gesinnungsgenosten war nicht recht
zufrieden mit den jungen Bürschchen. Zwar brüllte er ganz wacker
mit: „Nieder die Juden", „Hoch Hindenburg und Ludendorff"
ufw., aber er wollte partout haben, daß der Vorturner der anti-
semitischen Klique in Heidelberg, Arnold Rüge, feine politi-
schen Akrobatenstücke aus dem Denkmalssvckel zum Besten gab.
Er kam auf seine Rechnung, aber vorher passierte noch ein recht
belehrendes Zwischenstück. Ein Arbeiter ergriff das Wort. Der
Hurrapöbel hatte aber kaum seine polemische Absicht gemerkt, als
der Radau losging. Zum Worte kam er nicht mehr. Also Rüge
sprach. Er tat sich zuerst sehr viel auf seinen Mut zugute. Der
sollte wohl darin bestehen, daß er es wagte, unter Hunderten von
Gesinnungsgenossen auf freiem Platz zu reden. Jedenfalls ver-
säumte er es nicht, Rektor und Prorektor der Feigheit zu zeihen,
weil sie es unterlassen haben, in ihren Ansprachen den Gründer
der Universität Heidelberg, Ruprecht Karl, besonders zu erwähnen.
Als ob das einen Sinn gehabt hätte vor einer Zuhörerschaft, die
darüber genau so belehrt ist wie Herr Dr. Arnold Rüge. Was
sr sonst sprach, paßte sich in Ton und Inhalt dem Hetzschema der
Vorredner ganz harmonisch an. Und nun kam etwas Lustiges.
Rüge zog ein großes Tuch aus der Tasche. Es entfaltete sich zu
einer dreifarbigen, schwarz-weiß-roten Fahne. Er band sie an
deinen Krückstock, und schwang sie nach dem Takte des Liedes:
„Deutschland, Deutschland über alles", welches von einem Teil
der Zuhörerschaft mitgesungen wurde, von rechts nach links, von
links nach rechts, in alle Himmelsgegenden. Ein homerisches
Schlachtengemälde! Rüge ist ganz der Held, um das Modell da-
für abzugeben. Hinterher gabs noch eine Strahendemonstration.
Die Polizei wollte diese hindern, einige Arbeiter traten den Trä-
gern antisemitischer Hetzinschriften entgegen. Einer von den Ar-
beitern wurde niedergeschlagen. Wenn zwanzig zu einem da sind,
dann langt allerdings auch der Mut solcher Helden wie Rüge, um
Laraufloszuknüppeln.
Wer ist eigentlich dieser Dr. Arnold Rüge? Aeußerlich zu-
nächst ein baumlanger, breitschultriger Kerl. Das Format zum
Helden hat er nach seiner Statur so gut wie nach seinen Reden.
 
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