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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 69 - No. 71 (13. September 1866 - 27. September 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0022
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554

ßischen Forderungen. Verlängert sich darüber das jetzige
Provisorium ins Ünabschliche, desto schlimmer freilich einstweilen
für das sächsische Land und Volk, desto besser aber für die Consolidi-
rung der norddeutschen Staatsverhältnisse, bei welcher dann
zuletzt auch Sachsen wieder aus seinen Schaden kommen wird.
In der That ist nichts einleuchtender, als daß Sachsen, so gut
wie Preußen selbst, nach Lage der Dinge nur in der völligen
Einverleibung seine schließliche Rechnung finden kann und daß
jedes einstweilige Auskunftömittel nur auf eine Verschiebung
der Annexion hinauslauft. Denn daß Sachsen, wie der Kron-
prinz den sächsischen Truppen in höchsteigenen Anreden zu ver-
stehen gibt und wie ein übergcschnapptcr Sachsengeist sich gern
einreden läßt, daß Sachsen sich durch den Selbstverkauf an
Frankreich werde retten können, das zu glauben sind ver-
muthlich auch Diejenigen nicht dumm genug, denen es an der
niederträchtigsten Bereitwilligkeit dazu nicht fehlt.
Das Souveränetätöbewußtsein des Herzogs Bernhard
Erich Freund hat endlich das Gewehr gestreckt; die Fürstin
Karoline dagegen läßt die Fahne der Reuß'schcn Selbstherr-
lichkeit immer noch stolz in den Lüften wehen. — Sie ist nicht
die einzige fürstliche Dame, welche die schonende Langmuth
ihres königlichen Vetters in Berlin durch den Mißbrauch der
Privilegien ihres Geschlechts auf eine harte Probe stellt.
— Wenn das diplomatische Rundschreiben des Marquis
Lavalette die Wahrheit sagt, so hat sich das Tuilcriencabinct
mit dem Wechsel der Dinge in Deutschland gänzlich abge-
fundcn, mit der Vergrößerung Preußens nicht nur und mit
dem norddeutschen Bundesstaat, sondern auch mit der morgen
oder übermorgen bevorstehenden Ergänzung der politischen Ein-
heit Deutschlands durch den Eintritt der südwestlichen Gruppe
in die neue politische Gemeinschaft. Freilich lautete die vor
wenigen Monaten öffentlich ausgestellte französische Theorie
der Neugestaltung Deutschlands ganz anders, — wie denn darin
bekanntlich sogar dem österreichischen Kaiserstaat seine „große
Stellung in Deutschland" von der eigenen Feder Napoleons III.
gewahrt wurde — und allerdings ist es heute nur der Minister,
oder vielmehr ein bloß zeitweiliger Stellvertreter des Ministers,
welcher sich dabei beruhigt, daß die Dinge anders gekommen,
als man in Frankreich erwartet und besonders gewünscht hat;
gleichwohl darf man annehmen und nimmt man in der That
ziemlich allgemein an, daß das neue Programm der auswär-
tigen Politik Frankreichs ganz ernstlich gemeint ist und gehandhabt
werden wird — so lange nämlich, als nicht neue Thatsachen eine
Veränderung in der Auffassung und Behandlung der Interessen
des bonapartistischen Frankreich hcrbeiführen. Der Kaiser der
Franzosen, an der Spitze einer von kriegerischem Ehrgeize
brennenden Nation, mit dem zahlreichsten und glänzendsten Heere
zu seiner Verfügung, und im Besitze einer ungeheuren Finanz-
kraft, Napoleon III. muß also wohl auch einer jener „Götzen-
diener des Erfolgs" sein, auf welche man in manchen deut-
schen Zeitungsbüreaus mit dem Stolze der Ileberlegenheit her-
absieht. Welche Beschämung für den mächtigsten Mann Eu-
ropa's, an Tapferkeit im Kampfe gegen den gemeinschaftlichen
Feind von dem Stuttgarter „VolkSvereiu" übertroffen zu werden!
Und nun vollends, wenn jenes Häuflein streitbarer Schwaben
demnächst das Werk zu Stande bringt, an welchem der zag-
hafte Bonapartismus heute schon verzweifelt, die Zertrümme-
rung der programmwidrigen preußischen Macht!
Die schwache Stelle des Lavalette'schcn Rundschreibens ist
die Schlußfolgerung: weil Preußen an relativer Wehrkraft
zugenommen, so muß Frankreich durch Steigerung seiner Rü-
stungen sein bisheriges militärisches Ucbergewicht wiederher-
stellen. Seit Jahrhunderten ist es Frankreich gewesen, welches
Europa in das System des „bewaffneten Friedens" hineinge-
gezwängt, die fortwährende Vermehrung der stehenden Heere
zu einer Nothwendigkeit für die übrigen Staaten des Fest-
landes gemacht hat. Nicht zur Vertheidigung, deren Fall kaum
jemals eintrat, sondern zum Angriff wollte Frankreich seinen
Nachbarn überlegen sein, die dann durch das Gebot der Noth-
wehr zu Gegenmaßregcln getrieben wurden, welche Frankreich
alsbald wieder überbieten zu müssen glaubte, so daß, auf Ko-
sten der Steuer- und Produktionskraft der Völker, jener Wett-

kampf in den Kriegsvorbereitungen entstand, welcher Europa
des Friedens niemals froh werden ließ. Heute fordert also
Frankreich seine Nachbarn zu einem neuen Gange in diesem
Wettkampfe heraus, und auch diesmal natürlich nicht, weil
cs sich bedroht sähe, sondern lediglich, um in den Andern das
Gefühl des Bedrohtseins aufzufrischen. Die französische Vylks-
stimmc ruft der Regierung dabei einmüthigen Beifall zu —
eine neue Bestätigung der alten Erfahrung, daß der militä-
rische Ehrgeiz die herrschende Leidenschaft der Franzosen ist.
So unwillkommen die Folgerungen sind, welche sich daraus
für Deutschland ergeben, so unverständig würde es sein, uns
den Nothwendigkeitcn, welche dieselben mit sich bringen, ent-
ziehen zu wollen.
— Wird der schwerfällige Gang der österreichisch-italie-
nischen Friedensverhandlungen in den Ereignissen auf Sicilien
einen neuen Stein des Anstoßes oder eine Beschleunigung fin-
den? Für die erste Vermuthung ist eben so guter Grund
vorhanden, wie für die zweite. Wenn die sicilianischen Ver-
legenheiten Italien nachgiebiger machen, so können sie auf
Oesterreich die umgekehrte Wirkung ausüben. Daß die Haupt-
stadt der Insel, mit ihren 200,000 Einwohnern, durch einen
Handstreich in die Gewalt einer Aufrührerbande fallen konnte,
ist jeden Falls ein sprechender Beweis dafür, daß das König-
reich Italien heute noch auf schwachen Füßen steht. Die Haupt-
ursachen des Aufstandes auf Sicilien scheint erstens der Wider-
wille der Bevölkerung gegen die militärische Dienstpflicht zu
sein, von welcher sie bekanntlich unter der neapolitanischen
Regierung frei war, und zweitens eine in Wuth umgeschla-
gene Furcht vor der Cholera, welche man sich durch Absper-
rung gegen das Festland vom Leibe halten zu können meint.
Angesichts einer solchen egoistischen Rohheit des Geistes der
sicilianischen Bevölkerung kann von italienischem National-
patriotismus und von staatlichem Bürgersinn derselben nicht
füglich die Rede sein, und so wird denn der Regierung, um
die Siciliancr, wenn nicht zur Vernunft, so doch zum Gehor-
sam zu bringen, nicht Anderes übrig bleiben, als eine rück-
sichtslose Anwendung der Gewalt. Der deutsche Radikalismus
wird darüber freilich zum Himmel aufschreien, denn die sici-
lianischcn Aufrührer nennen sich ja Republikaner.
— Ob sich das Gewitter im Orient noch ein Mal ver-
ziehen oder demnächst mit Donner und Blitz entladen und
vielleicht gar unter einem europäischen Erdbeben entladen wird,
darüber ist mau in London und Paris ganz andrer Meinung
als in Petersburg und Berlin. Möglich, daß man hier wie
dort für wahrscheinlich hält, was man wünscht, möglich aber
auch, daß man in Rußland und in Preußen dem' Wunsch,
die orientalische Crisis jetzt zum Ausbruche kommen zu sehen,
stärker» Vorschub zu leisten ist Stande ist, als in England
und Frankreich dem entgegengesetzten Interesse. Sollte sich die
Nachricht von einem großen Siege der Candioten über die
türkisch-ägyptischen Truppen bestätigen, so würde es sich bald
Herausstellen, ob wirklich, wie es heißt, ein allgemeiner Auf-
stand der national- und kirchlich-griechischen Bevölkerung der
Türket vorbereitet ist, oder nicht. Einen fast wchmüthigen
Eindruck macht es übrigens, zu sehen, wie die Insel Candia
den Anschluß an das financiell und politisch bankerotte König-
reich Griechenland als den Zweck ihres Aufstandes verfolgt.
Die Zustände der Insel müssen allerdings trostlos sein, wenn
sie bei einem solchen Wechsel zu gewinnen hofft. — Damit
indessen auch eine erheiternde Nachricht aus dem Orient nicht
fehle, meldet man aus Cairo, daß der Vtcekönig von Aegypten
damit umgehe, sein Staat in eine constitutionclle Monarchie
zu verwandeln und zwar — nach dem Muster Frankreichs.

Die bevorstehenden Reichstagswahlen.
D Unter größeren Schwierigkeiten haben kaum jemals
seit 1848 in Deutschland Wahlen stattgefunden, als diejenigen,
aus denen nun demnächst der erste Reichstag des norddeutschen
Bundes hervorgchen soll. Die Aufgabe der zu wählenden
Versammlung ist noch ebenso wenig fest begrenzt, wie ihre
rechtliche und thatsächliche Competenz. Die Gemüthcr stehen
 
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