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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 69 - No. 71 (13. September 1866 - 27. September 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0023
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fortwährend unter dem Drucke der außerordentlichen Ereig-
nisse dieses Sommers; ein namhafter Theil dir Bevölkerung
Nord- und Mitteldeutschlands sieht sich den tiefgreifendsten
staatlichen Umgestaltungen ausgesetzt; die alten Partciverdände
lockern sich, und neue scheinen sich bilden zu wollen. Während
so aber die öffentliche Meinung weniger als je organisirt
und gegliedert erscheint, soll das Volk in seinen weitesten
Kreisen, nicht bloß theilweise oder in Classen-Abstnfnng, und
soll es nicht durch die Vermittlung von Wahlmännern, son-
dern direct die Wahl vornehmen. Zu allen diesen Erschwe-
rungen des Wahlgeschäfts kommt endlich noch die Diäten-
Frage deren Offenhaltung den Kreis der wählbaren Persön-
lichkeiten sehr zn verringern droht.
Unter solchen Umständen kann eine Partei, die auf dem
Reichstag in Berlin ein Wort mitzureden wünscht, sich nicht
früh, nicht angestrengt, nicht ausdauernd genug um entschei-
denden Einfluß auf die Wählerschaft bemühen. Daß die
liberale Nationalpartci den fraglichen Wunsch hegen muß,
versteht sich von selbst. Ja noch mehr: sie muß wünschen,
auf dem Reichstag nicht bloß überhaupt ein Wort mitzu-
rcden, sondern das große Wort zu führen, die Abstimmungen
zu beherrschen. Auf den Landtagen der Einzclstaaten konnte
cs ihr, solange nicht die nationale Action eintrat, zur Noth
genügen, überall nur vertreten zn sein. Auf dem constituiren-
den Reichstag dagegen, der die Ergebnisse der vollzogenen
militärischen "Revolution politisch gestalten, dem Körper eine
lebendige Seele einhauchcn, die unterbrochene Vollendung des
Einheitswerkes sichern helfen soll — da muß die Partei,
welche sich rühmt, die nationale Idee am reinsten und kräf-
tigsten in ihrem Schooße zu tragen, um jeden Preis die lei-
tende und entscheidende Rolle zu spielen bestrebt sein. Der
stürmische Zug der Ereignisse hat die Volkspolitikcr ohnehin
schon zu sehr" in den Hintergrund gedrängt. Bringt auch das
Parlament sie nicht wieder unbestritten obenauf, so steht es
übel um sie und die von ihnen verfochtene Denk- und An-
schauungsweise.
Zur erfolgreichen Agitation bedarf es eines Program m s
und einer Organisation. Das alte Programm des Na-
tionalvereins reicht offenbar längst nicht mehr aus: es läßt
uns ans verschiedene wichtige und dringende Fragen, welche
der Tag erhebt, ohne Antwort. Man darf aber annchmcn,
daß in dieser Beziehung die allgemeine Versammlung der Mit-
glieder, welche im Spätherbst stattzufinden pflegt, das Noth-
wendige und WünschcnSwerthe gewähren wird. Vorarbeiten
mag bis dahin noch das Preßorgan des Vereins mancherlei liefern.
Eine große und ungewöhnliche Anstrengung wird die
Organisation der Partei zum Zwecke der Reichstagswahlen
erheischen. Die überlieferten Beziehungen sind durch deu Um-
schwung der Dinge zu locker geworden, als daß man sich ein-
fach auf sie verlassen dürfte. Wer weiß denn noch, wie heut-
zutage ein ehemaliger Gesinnungsgenosse zu den Dingen steht,
wenn er ihn seit Mai oder Juni nicht darüber vernommen
hat? Und wie viele thätige Anhänger des Nationalvercins
gibt es wohl, die während der letzten Monate in ihrer pa-
triotischen Propaganda so gut wie gar keine Pause hätten
eintreten lassen? Hier bedürfte es also in jedem Falle der
durchgängigen Prüfung, vielleicht sogar einer umfangreichen
Wiederherstellung des seit 1859 errichteten Gebäudes, und die
Nähe eines so hochwichtigen Gebrauchszweckes, wie die Reichs-
tagswahlen, gebietet, dieselbe so schleunig wie möglich vorzu-
nehmen. Mit dem schriftlichen Verkehr wird schwerlich aus-
zurcichcn sein; persönliche Besuche, Rundreisen der Ausschuß-
mitglieder, oder anderer geeigneter Persönlichkeiten müssen hin-
zutretcn. Die so erneuerte Organisation muß dann aufs
eifrigste benutzt werden, um den Sinn der wählenden Elasten
erst auf die richtigen sachlichen Gesichtspunkte, fernerhin auf
geeignete Männer zu richten, wobei der rückhaltloseste Gebrauch
der Presse nicht gescheut werden sollte, um die verfügbaren
Sitze im Ganzen so zu vergeben, daß die liberale Natirnal-
partet sich demnächst im Reichstag nicht nur zahlreich, sondern
auch gut und vollständig vertreten wiederfindet.

Preußische Landtagsbriefe.
III.
Berlin, 23. Sept. Die Einzugsfcierlichkeitcn sind
vorüber. Die äußere Anordnung des Festes war großartig und
glänzend, aber auch sinnig und geschmackvoll. Zwischen den
208 vor dem Feinde auf den Schlachtfeldern eroberten Ge-
schützen, die mit Laubgewinden geschmückt auf der Siegesstraße
ausgestellt waren, sah man auf rothen Tafeln die amtlichen
Kriegsbülletins von Turnau und Skalitz bis Würzburg, die
durch ihre Bescheidenheit und Wahrheit so glänzend von den
prahlerischen Lügen der Gegner abstechen. Das herrlichste
Wetter begünstigte die Feierlichkeiten, selbst am zweiten Tage,
obgleich früh Morgens einiger Regen fiel. Das Glück des
Königs bei seinen militärischen Festlichkeiten ist hier sprich-
wörtlich. Leider verregnete aber die Illumination am Abend
dieses Tages, die glänzendste, die Berlin bis dahin gesehen
hat. Bismarck, zum General ernannt, hatte es sich, trotz
seines Leidens, nicht nehmen lassen, mit dem Krtegsminister
und den drei Chefs der Gcneralstäbe der böhmischen Armeen
(Moltke, Voigts-RHertz und Blumenthal) dem
Könige beim Einzüge voranzurciten; er sah sehr angegriffen
aus, wurde aber, nächst Moltke, am lautesten von den Zu-
schauern begrüßt. Das Fest war aber nicht bloß äußerlich
schön; es hatte auch einen großartigen würdigen Inhalt. Die
deutsche Nation wird die Früchte der preußischen Siege so gut
ernten, wie Preußen selbst. Die hcimkehrcndcn Krieger haben
keine Lust und keine Zeit, auf weitere Ruhm- und Beutezüge
zu sinnen. Sie sehnen sich nach Weib und Kind, nach Haus
und Hof, nach der Rückkehr zu den Arbeiten des Friedens.
Die allgemeine Wehrpflicht wird und muß das entscheidende
Charaktermerkmal für die Bevölkerung des neuen deutschen
Bundes bilden: — das haben Tausende und aber Tausende
mitten in dem Festjubel und dem Siegesräusche, bei der tiefen
Sehnsucht der aus einem wnndergleichen Feldzuge heimkehrcn-
den Sieger, gefühlt, welche kaum die Zeit erwarten konnten,
das Schwert wieder mit dem Spaten, mit dem Hammer, mit
der Feder, mit dem Pinsel zu vertauschen. Reiche und Arme,
Vornehme und Geringe, Handarbeiter, Künstler und Gelehrte,
Schulter an Schulter im heißen Kampfe, das verleiht der
Armee eine moralische Stärke, die dem Feinde furchtbarer ge-
worden ist, als das Zündnadclgewehr und die gezogenen Ka-
nonen! —
Eine umfassende Amnestie, welche alle Freiheits- und
Geldstrafen für Hoch- und Landesverrath, Prcßvcrgehen u. s.
w. aufhcbt, krönte würdig das schöne Sicgeöfcst. Sie würde
den Festjubel wo möglich noch gesteigert haben, wenn sie
der Masse während des Festes schon bekannt gewesen wäre;
aber durch einen fatalen Zufall, oder eine Ungeschicklichkeit,
war sie den meisten Zeitungen am 20. Nachmittags nicht
mitgcthcilt und auch am 21. nicht durch Anschlag veröffent-
licht. Die Amnestie befreit eine Menge treuer und rüstiger
Arbeiter an der Freiheit des Volkes von schweren Geldbußen
und langer Haft. Möchte sie nur auch das Signal für das
Aufhören der Willkür bei der Behandlung der Presse geben,
die sich strebsame Staatsanwälte im Osten und Westen der
Monarchie erlauben; nur gleichmäßige und gerechte Behand-
lung der politischen Parteien kann eine wirkliche Versöhnlich-
keit schaffen. Bis jetzt bemerkt man leider in der Provinz
noch sehr wenig von einem versöhnlichen Auftreten der Organe
der Staatsgewalt gegen die liberale Presse; cs mag schwierig
sein, die jugendlichen Streber von ihren bösen Gewohnheiten
zu heilen, und es ist leider sogar sehr wahrscheinlich, daß die
Minister der Justiz uud des Innern dieser Heilung nicht mit
besonderem Eifer obliegen. Sehr zu bedauern ist es auch, daß
die Amnestie sich nicht auf die im Disciplinarwege verhäng-
ten Strafen bezieht und daß sie die Todesstrafe nicht aufhcbt
die gegen Ludwig Simon und gegen zwei frühere polnische
Abgeordnete, Gut'try und Graf Dzialynski, in oontn-
maeiarn verhängt ist. Ich glaube kaum, daß diese Ausnah-
men dem Grafen Bismarck zur Last fallen.
Das Herrenhaus hat das Wahlgesetz für den Reichs-
 
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