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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 76 - No. 80 (1. November 1866 - 29. November 1866)
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594

Nachfolger angewiesen; der Tag der Vereinigung mit Preußen
ist für sie ein Tag des schwersten Unglücks geworden. Das
preußische Abgeordnetenhaus wird es sich übrigens sicherlich
nicht nehmen lassen, die Rechtsgültigkeit jener Verfügung über
ein bedeutendes Stück Staatscigcnthum der schärfsten Prüfung
zu unterziehen. — Auch wegen des Ersatzes der Frankfurter
Contribution, der doch durch die Einverleibung der weiland
freien Stadt zur offenbaren Nothwendigkeit geworden, ist noch
immer keine Verfügung getroffen, obgleich man wahrhaftig
alle Ursache hat, die Erinnerung an den damit im Zusam-
menhang stehenden peinlichsten aller Zwischenfälle der jüngsten
deutschen Geschichte so bald wie möglich aus der Welt zu
schaffen. Diese Verzögerung der nachträglichen Gerechtigkeit
ist um so auffallender, als die der Stadt; Frankfurt in Bezug
auf ihre Gemeindeverfaffung gemachten Bewilligungen unver-
kennbar von richtiger Einsicht und von der besten Absicht
zeugen.
— Die Zerfahrenheit der österreichischen Staatszustände,
das Schwanken aller politischen und nationalen Verhältnisse
des Kaiserreichs und seiner einzelnen Länder, die Rathlosigkeit
der Wiener Verfassungspolitik, und dem entsprechend die allgemeine
Entmuthigung und Hoffnungslosigkeit der Bkvölkerung sind in
fortwährendem Zunehmen. Alle Welt fordert, daß Etwas gethan
werde und Niemand weiß einen Vorschlag zu machen, der auch
nur die oberflächlichste Prüfung aushielte. Centralisation,
Föderalismus, Dualismus, alle für Oesterreich vorge-
schlagenen Formen des Verfaffungslcbens sind eben so wenig
ausführbar, wie das jetzige Regiment, diese Erneuerung des
Metternich'schen Systems, sich aufrecht erhalten läßt. Die
Aussöhnung mit Ungarn ist wieder so unwahrscheinlich ge-
worden wie je, so zwar, daß die bisherige Vcrmittlungspartei
Deals drauf und dran ist, ihre förmliche Abdankung auszu-
sprechen. Dagegen befleißt sich die Wiener Hofburg, die leicht-
gläubigen Polen durch unbestimmte Hoffnungen zu ködern
und mit dem Tschcchenthum zu liebäugeln, gleichviel ob das
Deutschthum in Oesterreich darüber eifersüchtig wird oder nicht.
In dem wirren Durcheinander der heutigen österreichischen
Politik ist nur ein einziger fester Punkt deutlich zu erkennen:
der bitterste Groll gegen Preußen und der brennende Durst
nach Rache für die erlittenen Niederlagen und Demüthigungen.
Daß dieser Haß zur herrschenden Leidenschaft in der Wiener
Hofburg geworden, davon gibt die Ernennung des Herrn
v. Beust zum Minister des Auswärtigen ein vollgültiges
Zeugniß ab. Die neuesten Nachrichten machen es zwar wieder
zweifelhaft, ob diese Ernennung bereits vollzogen sei, daß sie
aber bcvorstehe, gilt für gewiß. Es ist, als ob man vor den
Augen des Todfeindes die Pistole laben wollte, die ihm das
Lebenslicht ausblasen soll. Nicht, als ob Hr. v. Beust dem
preußischen Staat wirklich lebensgefährlich wäre; das große
Verdienst jedoch, welches ihn, auf Kosten der einheimischen Be-
werber, an die Spitze der österreichischen Staatsverwaltung
gebracht hat, ist ohne Zweifel sein wüthcnder Preußcnhaß.
Die offenkundigen Gesinnungen und Absichten der öster-
reichischen Politik geben den Gerüchten von der Vorbereitung
eines österreichisch-französischen Bündnisses, mit der gegen
Preußen gerichteten Spitze, eine große Wahrscheinlichkeit. Auf
sich selbst beschränkt, oder auch mit einem nochmaligen Angebot
des so schlecht bewährten süddeutschen Beistandes, wird Oester-
reich den Kampf gegen Preußen schwerlich wieder aufnehmen,
und der einzige vollwüchsige Bundesgenosse, um den es über-
haupt werben kann, ist Frankreich. Die gemeinschaftliche Sache
und der gemeinschaftliche Gegner ist vorhanden, die Verstän-
digung zum gemeinschaftlichen Plane wird nicht schwer werden
und der rechte Zeitpunkt zum gemeinschaftlichen Handeln wird
vielleicht schon iu der Stunde "gekommen sein, wo die neue
Ausrüstung der beiderseitigen Heere vollendet ist. Der Zweck
einer österreichisch-französischen Koalition versteht sich von selbst;
der Sieg derselben würde Preußen wahrscheinlich die Hälfte
seines gegenwärtigen Gebietes und Deutschland allermindestens
die Rheinprovinz kosten; — wogegen denn freilich eine Ent-
schädigung durch die Wiederherstellung des Königs von Han-
nover und der andern abgesetzten Fürsten geboten werden

dürfte. — Kurz, Deutschland sieht und weiß und greift mit
Händen, was ihm bevorsteht, wenn cs sich schwach erweist.

Aus Preußen, 28. Okt. Die Erklärung in Be-
zug auf die Abstimmungen über die Indemnität und die An-
leihe, welche gleich nach der Vertagung der vorigen Session
von einer Anzahl von Abgeordneten vorbereitet wurde, ist
nunmehr, von 24 Abgeordneten (8 vom linken Centrum, 16
von der Fortschrittspartei) unterzeichnet, veröffentlicht worden.
Nachträgliche Beitrittserklärungen sind Vorbehalten; einige sind
bereits erfolgt, andere jedenfalls noch zu erwarten. Solange
der Konflikt zwischen der Regierung und dem Lande über die
Reorganisation des Heeres uud über die verfassungsmäßigen
Rechte der Volksvertretung, namentlich bei der Feststellung des
Staatshaushalts-Etats, in seiner vollen Schärfe bestand, also
von den Neuwahlen im Winter 1861 an, bis zu denen im
Sommer 1866, die eine bedeutende Aenderung brachten, hat
das Abgeordnetenhaus im Wesentlichen immer dieselbe Zu-
sammensetzung gezeigt, dieselben Kämpfer, dieselben näheren
Kampfgenossen-Vereine, Fraktionen genannt. Wenn ge-
legentlich die Minister oder die konservativen, im Aerger über
die massenhafte Opposition, von der „Tyrannei der Fraktionen"
sprachen, so war das eine arge Unkenntnis; der Thatsachen
oder eine große Unwahrheit. Freilich standen in den wich-
tigsten streitigen Fragen über das verfassungsmäßige Recht des
Landes, über die Reorganisation und über die auswärtige
Politik, so wie die beiden leitenden Minister sie
damals dar legt en, s/s des Hauses, wie des ganzen Lan-
des, der Staatsregicrnng wie eine geschlossene Phalanx gegen-
über. Aber neben diesem entschiedenen Widerstande gegen die
Forderungen der Regierung, welche sic nicht durch den offen-
baren Hinweis auf eine großartige und kühne nationale Politik
begründen wollte oder durfte, gingen die Ansichten inner-
halb der Fraktionen in den wichtigsten Fragen oft sehr weit
auseinander. Der Vorwurf einer zu schlaffen Disciplin der
liberalen Partei hätte mehr innere Berechtigung gehabt, als
der einer zu schroffen, wenn nicht die erstere jeder Compromi ß-
Partei durch die Naiur aufgedrängt würde. Die Fortschritts-
partei war einig in der unerschütterlichen Vertheidigung des
verfassungsmäßigen Rechts gegen die verfassungswidrigen Ueber-
griffe der Regierung, und so sehr überwog dieses Interesse
in der öffentlichen Meinung alle übrigen, daß die liberalen
Abgeordneten im Grunde nur dieses einzige Mandat von ihren
Wählern erhielten; aber die Partei war keineswegs in sich einig in
Bezug auf die für Preußen gebotene deutsche Politik. Sie
war keineswegs identisch mit dem National-Verein, der sogar
von einigen ihrer hervorragendsten Mitglieder sehr gering-
schätzig angesehen wurde. Neben den Männern des National-
Vercins, welche den Ausschluß Oesterreichs für die erste Vor-
bedingung des Bundesstaats hielten, standen in ihren Reihen
Annexionisten, die durch die Vergrößerung Preußens den
Weg znm deutschen Einheitsstaat zu finden hofften, und
mehr oder minder demokratische Groß deutsche, die in Be-
zug auf die künftige Stellung Oesterreichs zu oder in Deutsch-
land mindestens dieselben Vorbehalte machten, wie die Reichs-
verfassung von 1849. Als nun aber in den unwiderleglichen
Thatsachen der Nikolsburger Friedenspräliminarien und der
späteren Einverleibungen, als Kern der deutschen Politik Bis-
marck's, der Ausschluß Oesterreichs und die Vergrößerung
Preußens, so weit seine militärische Sicherheit und die von
ihm unbedingt beanspruchte Führung der deutschen Staaten —
einstweilen bis zum Main — hervortrat, da mußten in den
liberalen Fraktionen so viele entscheidende Punkte als „offene
Fragen" behandelt werden, daß die Möglichkeit der ferneren
Existenz dieser Kompromiß-Partei, den vielen Forderungen der
Gegenwart gegenüber, allerdings sehr zweifelhaft wurde.—
„Programme machen keine Revolutionen, aber Revolu-
tionen machen Programme", hatSchulze-Delitzfch, wenn
ich nicht irre, einmal in Frankfurt gesagt. Natürlich! Jede
Zeit hat ihre Forderungen und ihre Pflichten, und grade durch
Revolutionen brechen sich neue Bedürfnisse, neue Interessen
 
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