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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 76 - No. 80 (1. November 1866 - 29. November 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0063
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595

der Völker gewaltsam Bahn. Daß in diesem Jahr in Deutsch-
land eine gewaltige Revolution vor sich gegangen ist, daS
wird doch Niemand darum bestreiten können, weil die preu-
ßische Regierung und die preußische Armee sie vollzogen haben.
Die Nothwcndigkcit einer Aenderung des zeitherigen Programms
wurde also von vielen Seiten gefühlt. Aber bei einer mehr-
jährigen erbitterten Opposition bildet sich in den Fraktionen
leicht ein gewisser Korpsgeist und cö wird den Einzelnen oft
schwer, aus dem Kreise der gewohnten Anschauungen heraus-
zutreten. Um das Eis zu brechen, haben jene Abgeordneten
mit ihrer „Erklärung" die Initiative ergriffen; die fernere
Entwickelung wird zeigen, mit welchem Erfolge. Man konnte
vor dem Kriege darüber zweifelhaft sein, ob der innere
Konflikt der Staatsrcgicrung die nöthigc Kraft zur Durch-
führung ihrer Pläne gelassen habe, und darum sich denselben
widersetzen, auch wenn man die Ziele gekannt und mit ihnen
einverstanden gewesen wäre. In diesem Sinne konnte man
die äußere und die innere Politik für untrennbar erklären.
Diese Zweifel sind durch die Erfolge gelöst. Nimmermehr
sollen und dürfen diese Erfolge, wie glänzend sie auch sind,
die liberalen Abgeordneten bestimmen, im Kampfe für Recht
und Freiheit inne zu halten. Aber Preußen hat seine Exi-
stenz eingesetzt, um seine nationale Aufgabe zu lösen, und cs
muß sie auch ferner einsetzcn, um das Begonnene zu vcrthei-
digen und zu vollenden. Es wäre ein nationales Unglück,
wenn es auf diesem Wege eine Niederlage erlitte; denn die
Früchte derselben würde das Ausland und die partikularistische
Reaktion unter bonapartistisch-habsburgilcher Protektion ärnd-
tcn. Vor dieser Gefahr müssen alle anderen Rücksichten
zurücktretcn. Viele gute Patrioten fühlten sich längst mehr
und mehr zu der Uebcrzcugung gedrängt, daß man auf „moralische
Eroberungen" beschränkt bleiben werde, so lange nicht, wie
in Italien, die größte Militärmacht deS zerrissenen Vaterlandes
in den Dienst der nationalen Sache trete; sie hatten sich so-
gar so weit rcsignirt, für diesen großen Zweck auch eine vor-
übergehende militärische Diktatur zu ertragen. So schlimm
ist es nun nicht geworden. Prcußenhat ein großes Werk begonnen;
es muß dasselbe vollenden—bei Strafe der Vernichtung, die schwer
auf die Nation zurückfallcn würde. Darum muß die nationale
Partei die deutsche Politik der preußischen Staatsrcgicrung
kräftig unterstützen, selbst wenn sie das „System" im Inneren
jetzt noch nicht brechen kann. Das ist eine Frage der Zeit,
der Person. Die Dinge sind jetzt im Fluß, und welche staat-
liche Form schließlich aus der gährcndcn Masse hervor-
steigen wird, das weiß so ganz genau wahrscheinlich noch Nie-
mand. Wenn nun aber die Einhcitsstaatler, wie die Bundes-
staatlcr, grollend der Förderung des großen Werkes sich weigern,
die Einen, weil nicht sofort Alles annektirt ist, die Andern,
weil die Einverleibungen Preußen größer gemacht haben, als
es die bundesstaatliche Proportion eigentlich erlaubt; wenn
Beide der Regierung jede Unterstützung versagen, so lange die
innere Verwaltung nicht gründlich mit dem „System" bricht:
— dann ist das ein Doktrinarismus von der schlimmsten Sorte,
und das Volk könnte darüber schließlich leicht in die fatale
Lage kommen, sich über die Leiden des Vaterlandes mit der-
selben Logik trösten zu müssen, mit der sich der Berliner
Schusterjunge über feine erfrorenen Hände tröstete. —
Die „Volksztg.", die wunderlicher Weise in der „Erklä-
rung" das Zeichen eines belasteten Gewissens entdeckt, wozu
die im Lande herrschende Stimmung wahrlich nicht den gering-
sten Anlaß gibt, will den Unterzeichnern doch ihre Abstim-
mungen für die Indemnität und die Anleihe Nachsehen; aber
daß sic die Einverleibung beschlossen haben und nicht die
Personal-Union, um die Verfassungen der einzelnen Staaten
bis zur Einführung der Reichsvcrfassung zu erhalten und den
Bundesstaat proportionirlichcr zuzuschneidcn, das kann sie ihnen
nicht verzeihen. Ihre altersgraue Weisheit ist durch die stür-
mische Entwickelung der Dinge etwas aus dem Konzept ge-
kommen; darum ist sie sehr verdrießlich und man muß ihr
manches Nachsehen. Anfechtungen des Dogma verfolgt die
rechtgläubige Kirche ja immer am grimmigsten. Indessen, wie
Jemand gegen die Adresse, gegen die Einverleibung, die In-

demnität, die Anleihe und das Wahlgesetz für den Norddeut-
schen Bund stimmen kann, das begreift sich noch allenfalls.
Wie aber Jemand eine Abstimmung für die Adresse und für
die Einverleibung und dann gegen die Anleihe und das
Wahlgesetz mit der Logik in Einklang bringen kann, das ist
nicht wohl zu begreifen. —
Wenn irgendwo die völlige Einverleibung durch das natio-
nale Interesse gerechtfertigt war, - so war das in Sachsen der
Fall, sowohl wegen der militärischen Wichtigkeit des Landes,
als wegen der traditionellen Politik seiner Regierung. Der
dynastische Einfluß verhinderte diese Lösung, die auch einem
großen Thcile der sächsischen Bevölkerung als die zweckmäßigste
erschien, wie die sofort versuchten, aber zum Glück durch eine
Klausel des Friedcnsvertrags vereitelten Verfolgungen wegen
Landcsvcrraths gegen nationalgesinntc Männer (Lorenz, Joseph)
beweisen. Dieser Vertrag wird Diejenigen beruhigen, welche
schon befürchteten, daß Sachsen in dem Norddeutschen Bunde
eine andere Stellung cingeräumt werden könnte, als den übri-
gen Staaten. Für ein einheitliches Bundesheer auf Grund-
lage der allgemeinen Wehrpflicht, unter Beseitigung des Kon-
tingentswesens, wird das norddeutsche Parlament zu sorgen
haben. Einstweilen muß man sagen, daß die Bedingungen
des Fricdensvertrages für die Sicherheit der Gränzen genügen
und der Errichtung des Bundesstaates nicht im Wege stehen,
und darum scheinen dieselben zu beweisen, daß es der Regie-
rung mit dem Norddeutschen Bunde und der Einberufung fei-
nes Reichstages wirklich Ernst ist. Mit dieser Nebcrzeugung
wird nun auch hoffentlich eine kräftige Agitation für die
Wahlen zu demselben bald beginnen. Sonst könnte man
leichk durch das Ministerium überrascht werden, welches eifrig
mit der Aufstellung der Wahlbezirke beschäftigt ist, so daß
die Wahlen sicher am Schluffe der bevorstehenden Session,
etwa im Februar, stattfinden werden, vielleicht auch noch früher.
Ob und welche Bedeutung der Reichstag mit seiner nur bc-
rathcndcu Summe erlangen wird, ob die mecklenburgischen Jun-
ker ihm ein Veto cntgegenzusetzen wagen u. s. w. das hängt wesent-
lich mit von seiner Zusammensetzung ab. Im Norden herrscht
bis jetzt offenbar eine nicht zu rechtfertigende Gleichgültigkeit
gegen den Norddeutschen Bund und seinen Reichstag. Ein-
mal ist naturgemäß auf die gewaltige Aufregung des Sommers
eine sichtliche Abspannung gefolgt. Daneben glaubte man
vielfach bis jetzt immer noch nicht recht an den Ernst der
Sache, weil man ein bundesstaatliches Vcrhältniß zwi-
schen Preußen und Rcuß ä. L. oder Bückeburg überhaupt für
eine leere Form ansieht, die in der Wirklichkeit durch
die Logik der Thatsachen und durch das Gesetz der Schwere
bald dem Einheitsstaat!! weichen werde. Und der Süden?
Für jeden vernünftigen Menschen — Hrn. Moritz Mo hl
und Genossen also selbstredend ausgeschlossen — ist Römer's
Ausspruch überzeugend, daß der Widerstand des Südens gegen
den Anschluß an den Norddeutschen Bundesstaat den Einheits-
staat fördere, und die geheimen Sepcrat-Verträge innerhalb
der süddeutschen Fürsten-Koalition des letzten Sommers mögen
die Zahl derer noch beträchtlich verstärkt haben, die einen
Bundesstaat unter verschiedenen Dynastien von vorn herein für
unmöglich halten. Aber wie dem auch sei, so ist es doch im-
mer zweifelhaft, ob uns dieses Experiment erspart wird.
Wenigstens die provisorische Errichtung des norddeutschen
Bundesstaates wird, allen Anzeichen nach, nicht zu umgehen
sein, und während dieses Provisoriums kann sehr viel geschadet
werden, wenn das Volk nicht endlich feine Gleichgültigkeit
abschüttclt. —
Der Graf von Westphalen, der nach der Auflösung
des deutschen Bundes seinen Huldigungseid für gelost erklärte
und seinen Sitz im Herrenhausc aufgab, ist nunmehr wegen
Majcstätsbeleidigung und Erregung von Haß und Verachtung
gegen die Obrigkeit vor dem Kreisgerichtc zu Meschede zur
Untersuchung gezogen. Er bestreitet die beleidigende Absicht
und schiebt die Verantwortung für die Veröffentlichung seines
Briefes über diese „rein interne" Angelegenheit des Herren-
hauses dem Präsidium desselben zu. Der Abgeordnete Elven
wird ihn verthcidigcn.
 
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