Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte (4.1887)

Eine Epiſode aus der venczianiſchen Geſchichte.
(Der Sturz des Hauſes Carrara.)

Von
Ernſt Bernheim.

Wenn wir Angehörigen nördlicherer Himmelsſtriche an Venedig
und ſeine Geſchichte denken, gerät unſere ganze Phantaſie in leb—
haften Schwung, und gerne benutzt der Hiſtoriker dieſe Gemüts—
ſtimmung, welche ihm entgegenkommend ſeine Aufgabe erleichtert,
ſich ſelbſt und ſeine Hörer aus der behaglichen Gegenwart des
wohlbekannten Daſeins in eine längſt vergangene fremdartig be—
wegte Welt zu führen.

Verſetzen wir uns alſo im Geiſte auf den Marcusplatz von
Venedig, dort, wo ſich gerade vor uns die Kirche San Marco's
in ihrer byzantiniſchen Pracht erhebt, daneben der Dogenpalaſt
mit ſeiner zierlich gotiſchen Faſſade; erſteigen wir die mächtige
Marmortreppe, die zu dem inneren Säulengang rings um den
weiten leuchtenden Hofraum des Dogenpalaſtes führt, und über—
laſſen wir uns, an die Brüſtung der Galerie gelehnt, lauſchend
auf das gleichmäßige Plätſchern des Springbrunnens dort unten
in dem ſonnigen Marmorhof, der träumeriſchen Betrachtung, die
unwillkürlich unſere Seele ſo oft in dieſer Wunderſtadt ergreift.

Welch ein Geiſt muß in jenem vergangenen Geſchlechte ge—
lebt haben! — ein Kaufmannsvolk, das ferne Küſten, Hafenplätze,
ganze Inſeln als Handelskolonien und Stapelorte eroberte und
dieſelben in faſt ununterbrochenen Kämpfen gegen die Eingeborenen,
gegen fremde Eroberer, wie die Türken, und gegen die noch ge—
fährlichere Konkurrenz der eigenen Landsleute, Genueſen und Pi—
ſaner, zu behaupten vermochte — eine ſtädtiſche Republik, welche