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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 4.1887

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Kaemmel, Otto: Ein russisches Heiligenbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.52692#0482

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Ein ruſſiſches Heiligenbild.

Am ſchönſten Teile des Newskijproſpekts, jener Hauptverkehrsader St. Peters—
burgs, die den ſüdlichen Hauptteil der gewaltigen Stadt, die „große Seite“,
von der Admiralität bis zum Alexander-Newskijkloſter, nach dem ſie heißt, in
einer Länge von 4,5 Em durchſchneidet, erhebt ſich auf der rechten, ſüdlichen
Seite der mächtige Bau der Kaſanſchen Kathedrale. Faſt erdrücken die halb—
kreisförmigen Säulengänge, welche der Kirche nach dem Muſter der römiſchen
Peterskirche vorliegen, das Gebäude ſelbſt, ſo bedeutend es an ſich iſt, ein
Kreuzſchiff mit der Kuppel über der Vierung, getragen von prachtvollen ko—
rinthiſchen Säulen aus rotem Granit mit Baſen und Kapitälen aus vergoldeter
Bronze, geſchmückt mit eroberten Fahnen aus den Napoleoniſchen Kriegen,
denn dies iſt ein Nationalheiligtum des rechtgläubigen ruſſiſchen Volkes. Hier
befindet ſich, ſtets von Andächtigen umlagert, an einem der vier Pfeiler, welche
die Kuppel ſtützen, das wunderthätige „Kaſanſche Bild der Mutter Gottes“,
ein Palladium Petersburgs, ja des geſamten ruſſiſchen Reiches, vor allem des
Zarenhauſes. Wie es dazu wurde, ſoll hier nach einer amtlichen, auf ver—
läſſigen Quellen beruhenden kurzen Darſtellung geſchildert werden, denn in
dieſer Entwicklung liegt ein guter Teil ruſſiſcher Kulturgeſchichte, ja ruſſiſcher
Geſchichte überhaupt. Fremdartig freilich, halb mittelalterlich, halb heidniſch,
mutet uns Abendländer das Ganze an, etwa wie Vorgänge ähnlicher Art im
Mittelalter oder in der antiken Welt, denn die Ruſſen ſind kein modernes
und kaum ein europäiſches Volk.

Als Kaſan im Oktober 1552 von den Moskowitern unter Iwan IV. dem
Schrecklichen erobert, dies ganze mongoliſche (tatariſche) Chanat unterworfen
war, ſiedelten ſich alsbald zahlreiche Ruſſen in der Stadt an, ſtanden aber
den Tataren lange Zeit ſo feindlich gegenüber, daß dieſe die verheerenden
Feuersbrünſte, welche eben die ruſſiſchen Gaſſen beſonders betrafen, als ein
Zeichen des himmliſchen Zornes erachteten und daraus die Hoffnung ſchöpf—
ten, die Ruſſen wieder zu vertreiben. Da erſchien, ſo erzählt die Legende, der
gegenüber wir uns rationaliſtiſcher Zergliederung billig entſchlagen, als ein
Erweis göttlicher Gnade ein wunderthätiges Bild der Mutter Gottes. Die
Tochter eines ruſſiſchen Strelitzen, Daniel Onutſchin, deſſen Haus ebenfalls in
einem jener Brände zu Grunde gegangen war, ein neunjähriges Mädchen Namens
Matrona, träumte dreimal hintereinander, ihr erſcheine die Himmelskönigin
und erteile ihr die Weiſung, auf der Stätte des abgebrannten Hauſes nachzu—
 
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