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Badener Lazarett-Zeitung (Nr. 1-58[?]) — Baden-Baden, Juli 1916 - Dezember 1918

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Hefte 5-6, September 1916
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https://doi.org/10.11588/diglit.2827#0031

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Durch.*)

Bon HanL Schmalsuß, Hof a d. S.

An einem trüben Vormittag des MonatS März
1915 machte sich die Kompagnie fertig zum Sturme,
um ein Grabenstück den Franzosen wieder zu ent-
rcitzen. NichtS rührte sich auf der Gegenseite und
sprungweise gewannen wir Boden. Schon waren
wir dem feindlichen Graben näher gelommen, da
— ein rasendes Kleingewehrfeuer empsängt uns,
das jedes Vorwärtsdringen unmöglich macht. Es
wird nachmittags und noch ist unser Ziel nicht er-
reicht. Aber die Zahl der Angreifer ist so zusammen-
geschmolzen dah es an der gleichen Stelle aushalten
heiht, um sich bei Nacht zurückziehen zu können.
Die Granatcn fahren fort, ihre unheimliche Melodie
zu fummen, da und dort reiht eine krachend den Leib
der Erde auf. Jetzt — es ist nachmittags etwa
b Uhr — platzt vor mir zuerst eine, dann noch
eine Handgranate, die mich an Arm und Bein ver-
letzt. Zugleich aber verschwindet alles um mich in
tiefe Finsternis, und warm rieselt cs mir über das
Gesicht. Die getroffenen Kameraden neben mir
röcheln schwer. Notdürftig suche ich mir den Kopf
zu verbinden; aber das ersle Verbandpäckchen ent-
fällt den Händen und die tastenden Finger drücken
es tief in den lehmigen Boden, sodah es nicht mehr
verwendet werden kann. Das zweite PSckchen reicht
zu einem mehrmaligen Herumschlingen um den Kopf
über die Augen. . . Die mit Sehnsucht erwarteten
Krankenträger kommen nicht, die Nacht läht jedoch
allmählich etwas Ruhe im Kampf eintreten. S e
scheint kein Ende nehmen zu wollen. Endlich ver-
falle ich in einen leichten Schlummer — oder ist
es Bewuhtlosigkeit? —, aus dem mich das Röcheln
des Kameraden ncben mir weckt. Nach seiner An-
gabe graut jetzt der Morgen. Wir oersuchen zu-
sammen zurückzukriechen, aber es ist mir unmöglich,
ihn von der Stelle zu öewegen. Die Richtung,
aus der wir anstürmten, weih ich noch ungefähr —
so werde ich also allein versuchen, Hilfe zu holen.
Von feindlichen Granaten umschwirrt, krieche ich,
Schritt für Schritt, Meter für Meter, durch einen
zusammengeschossenen Wald, laffe mich über gestürzte
Baumstämme gleiten, bleibe immer wieder mit
meinem Verband im Gestrüpp hängen — weiter,
nur immer weiter der helfenden Hand entgegen.

*) Ja diefem Aufsatz gibt Herr Magistratsbeamter
Echmalfuß Bertcht, wie er stchalSKriegsblinderinLeben
und Beruf zmückgefunden hat. Wir haben um solchen
Bericht für die ..Lazarett-Zeitung" gebeten, als wir von
diesemtapferenWiederrinarbeitmKenntniserhieltm. D.Red-

-Jch hörte rechts von mir Stimmen. Gott

sei Dank, die Rettung! Frischen MuteS geht es
jetzt vorwärts und bald heben mich ein, zwei Paar
hilfsbereite Arme in einen Graben: — „prisonnier"

höre ich.. Jch war den Fran-

zosen in die HSnde geraten.

Trotz all meiner Bitten und Bemühungen mußte
ich noch 1 ^ Tage im feindlichen Graben im Granat-
feuer der Unsern audhalten, dann wurde ich in
einem Barackenlazarett in Toul nach Tagen operiert.
Und auf alles Fragen und Drängen wurde mir
während meiner Gefangenschaft immer wieder die Aus-
kunft zuteil: das eine Auge fei vollständig verloren,
auf dem andern aber werde ich in drei bis vier Mo-
naten wieder sehen. Langsam erholte sich der Körper,
und ich freute mich wie ein Kind auf den Augen-
blick, der die entsetzliche Finsternis beendcn, mir das
Licht der Sonne wiedergcben sollte. Als ich erfuhr,
ich solle ausgetauscht werden, dämmerte mir etwaS
Furchtbares: Sollte man dich gar nimmer zum
Kriegshandwerk brauchen können? Solltest du
dauernd blind bleiben? — Jm Lazarett in Lyon
oergingen noch zwci entfetzliche Monate vollerZweifel,
Hangen und Bangen, mit dem Verdammtsein zur
Untätigkeit, ohne jede Bewegung in frischcr Luft:
es war zum Wahnstnnigwerden. Der heißersehnte
Austausch kamendlich zustande, und am ll.Juli 1915
waren wir wieder unter Landsleuten in Konstanz.
Welch ein Gefühl, wieder in der Heimat zu sein I Die
Tränen der Freude, die da gefloffen sind, sie sprechen
mehr. als die schönsten Worte es auszudrücken ver-
mögen. Jn den nächsten Tagen in Karlsruhe wurde
mir endlich die Gewißheit über mein Geschick, die,
wenn auch noch so furchtbar, mir doch willkommener
war, als der bisherige Zustand der Zweifel. — Beide
Augen waren mir herausgenommen. — ,Jn drei
bis vier Jahren werden Sie so weit sein, datz
Jhnen das Leben wieder lebenswert und schön er-
scheint', suchte mich dcr Arzt zu tröstrn. So lange
aber sollte es, Gott sei Dank, nicht dauern.

Nach den ersten Tagen des Zerschmeltertseins
bereits suchte ich aus dem mir Gebliebenen mein
Leben nreder aufzubauen. Jch erforschte und erwog
alle Möglichkeiten, um der Untätigkeit zu entrinnen
und vorwärts zu kommen. Jm Lazarett in Nürn-
berg begann die Arbeit zur Wiedererlangung der
Selbständigkeit. Zuerst galt es, die Scheu vor den
Menschen zu überwinden und zu lernen, sich wieder
frei unter ihnen zu bewegen, dann oersuchte ich,
mich in den Bedürfniffen des täglichen Lebens der
Abhängigkeit zü entledigen, zog mich wieder allein
an. wusch und kämmte mich selbst. Um die Ver-

bindung mit der Geisteswelt nicht zu verlieren. la
mir die Erlernung des LesenS und Schreibens der
Punktschrift sehr am Herzen, und wie glücklich fühlte
ich mich schon bei den ersten Fortschritten l BereitS
nach einigen Wochen laS ich mit dem Finger, wcnn
auch noch stockend, doch mit vielem Vergnügen:
»Die Pfingstnacht' von Rosegger. Um auch in der
Musik wieder Zerstreuung zu finden, machte ich mich
nach sechs Wochen Bollschriftstudien an die etwas um-
ständliche Notenpunktschrift und nach weiteren zwei
Monaten an die Kurzschrift. Das Schreiben auf
der Punktschriftmaschine enthob mich bald des lang-
samen SchreibenS mit Tafel und Stift. Und heute
könnte ich die Punktschrift nicht mehr missen, rrfetzt
sie mir doch zum grotzen Teil die Flachschrift der
Sehenden. Mit dem Maschinenschreiben war ich
bereitS früher vertraut gewesen, und so ging
sofort mein Bestreben dahin, mir sowohl in Bezug
auf Sicherheit alS auf Schnelligkeit wieder die alte
Gewandtheit auf der Schreibmaschine der Sehenden
zurückzuerobern. Freilich lernte ich jetzt meine
Finger besser auszunützen: statt mit zwei, schreibe
ich jetzt mit zehn Fingern. Die Handhabung der
Rechentafel und des Reitzbrettes für Blinde, fowie
die Bcnützung der Relieflandkarte überzeugten mich
oon den Jortschritten deS Blindenb'ldungswesens.
Nebenbei nahm ich auch die ersten Klavierstunden.

Es war gut, daß ich bei der Neugestaltung
meines Lebens in Nürnberg den günstigen Boden
gefunden hatte, dessen ein Erblindeter im Anfang
unbedingt bedarf, um in die veränderten Verhält-
niffe hineinzuwachsen. Ich lernte bald einsehen,
daß die Blindheit kein unüberwindliches Unglück,
fondern nur ein Leben unter neuen, freilich fchwierigen
Umständen bedeutet.

Nach sechsmonatlicher Ausbildung drängte es
mich, mein früheres Wissen und die mir verbliebene
Arbeitskraft wieder in einem Beruf zu verwerten:
Glücklicherweise ward es mir vergönnt, wieder meine
frühere Tätigkeit aufzunehmen. Jch hatte bei Aus-
bruch des Kriegs die Prüfung sür den mittleren
Verwaltungsdienst bestanden und dank dem Ent-
gegenkommen meiner Heimatbehörde ging es gleich
nach mriner Heimkehr wieder ans Einarbeiten in
das Arvt, das ich als Sehender bekleidet hatte.

Jch nehme jetzt beim VersicherungSamt wieder
die Protokolle auf und entwerfe wie früher die
einschlägigen Verfügungen. Wo ich mit der Schreib-
maschine nicht mehr zurechtkommen kann, wie beim
Ausfüllen oon Formularen, erfolgt dasselbe nach
meiner Angabe durch eine sehende Hilfe. Diese
schlägt mir die Sesetzesbestimmungen und Kommen-
 
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