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Badener Lazarett-Zeitung (Nr. 1-58[?]) — Baden-Baden, Juli 1916 - Dezember 1918

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Hefte 53-54, September 1918
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https://doi.org/10.11588/diglit.2827#0319

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ßöronik.

Ter RLckzug der deutschen Truppen an der
franMschen Front hat seinen planmLßigen Fortgang genom-
men. Wie Hindenburg in seiner strategischen Laufbahn
scho» des öfteren Terrain preiSgegeben hat, um das Heer zu
stcher» und sür neue Schlüge vorzubereiten, hat er auch dicimal
die Errungcnschaften der Frühjahrsoffensive in Fraukreich den
höherrn ftrategischen Abfichten geopfert, und wie die Preisgabe
Polens, ja di« zweite Preisgabe Ostpreuhens in der Sicherung
der deutschen Zukunft im Osten eimn endgültigen Erfolg davon-
getragen hat, so barf auch erwartet werden, datz die Strecken
Feindesboden, die wir jitzt in Frankreich preisgegeben haben,
nicht uwsovst zum Opfer gebracht'worden fiad, Zm Westen
war dte Front bis zum 7. September in die neüe Linie
Bapaume — Perronne. »ahe ber alten Eiegfriedstellung,
zurückverlegt. Das gerüumte GelSnde tst wieder in einen
Zuftaud versetzt. der dem Feind weder Stützpunkt noch
Teckung bietet Üeberdies fiud in der Gegend von C ambrai
diesmal weite Strecken unter Waffer gesetzt word-n, vor allem
wohl im Hinblick auf die größeren Tankangriffe, mit denen
ber Feiud diesmal den Srfolg zu erzwingen versucht, und
denen durch die Leberschwemmung ein nicht zu beseitigendes
Hindernis in den Weg gelegt wkd. - Die Zurückverlegung
der Froat machte sich auch in Flandern geltrnd, w» wir die
Bastton des Kemmclberges vor unseren Lmien grlaffen
» haien.

Unsere Rückzugflrategie, di- den Feind immer im Ln-
klaren läßt, wo er -S nur mit schwLcheren dcutschen Pa-
trouillen wo mit flSrkereu KrSsten zu tun hat, hat ihn
unverhLltuismSßig viel Opser gSkostet. Nach den englischen
Vcrlustlisten stud bis in den August eine halbe Million
EnglSnder allein als Verlust zu verzeichnen. Wenn auch
die amerikanischen Truppen einen Ersatz dasür schaffen,
so ist doch dieseS KrLstereseivoir des Feindes nicht uner-
schöpflich, zumal wenn man bedeukt, daß jeder amerikanische
Eoleat in Frankreich einen gewiffen Tonneneaum feindlicher
Echiffahrt sestlegt, und daß dieser Tonnenraum immerfort
durch unsere U-Boote eine Verringerung ersährt, Wir dürsen
daher nach wie vor der Zukunst getrost entacgensehen und
allen albernen MLrchcn, mit denen man den Rückzug unserer
Truppen hat erklLren wollcn, sei es das MSrchen dom Tode
Hindenburgs, oder von irgend welchem Verrat, oder wovon
immer, mit aller, Sncrgie eutgegentreten.

Die Entwicklung der Dinge im Osten hat einen für
uns durchaus ersreulichen Verlauf penommen. Das kom-
munistische Rußland der Sowjetrepublik, das am
Frieden mit Deutschland als der Vorausletzung seiner Exi-
stenz unverbrüchlich fcsthSlt, hat seine Stellung gestSrkt. Die
tschecho-slowakischen Meuterer find von den Sowjettruppen an
verschiedenen Etelle» geschlagen worden, und am 1v. Sep»
timbe» konnten die Eowjettruppen Kasan wieder rin-
nehmin. Die Entente. die sich durch dieses Erstarken der
Sowjetregierung bedroht sieht, setzt alle Hebel in Be-
wegung, um ihr entgegen zu arbeiten, Eine große gegen-
revolutionLre Berschwörung wurde ausgedeckt und der eng-
lische Keneralkonsul Lockhart im Kreise der Verschwörer
verhastet, Vorher sch»n ist i» Moska« durch eine aus Kiew
stawmende Terroristin Dora Kaplan ein Attentat auf den
leitendtn Mann der Eowjetrepublik, Lenin, verübt
^tvordeu, da» biesen schwer, ober nicht lebensgesLhrlich der-
wundete, und i» Petersburg war der Volkskommiffar str

innere Angelegenhciten Ulitzki durch den sozialistischen
Ossizierslchüler Kannengießer ermordet wordcn. Die
Eowjetrepublik hat mit der Verhaftung der in Rußland
lebendek EnglKuder geantwortet und seitdem besteht ein
kaum mehr verhüllter Kriegszustand zwischen Rußland und
ber Entent«, Das VerhLltnis zwtschen der Sowjetrepublik
und Deutschland hal durch Lie Ende August >zu stande ge-
kommenen ZufatzvertrSge zum Brester Frieden eine erfreu-
liche KlLrung erfahren. Rußland hat sich darin zu einem
Ersatz der privaten KriegsschLdcn in der Höhe von sechr
Milliarden, teils in Golb, teils in Warrn oder gedeckten
Anleihen zahlbar, verpsiichtet, und in die Trennnng
EsthlandS uud Livlands von Rußland gewilligt,
wogegen Deutschland die kommuuistische Gesellschaftsordnung
in Rußland anerkennt, Weißrußland zu rSumen verspricht
unb weiterc Lostremrungen rusfischen Gebiets nicht zu unter-
stützen fich verpflichtet.

Auch die Beziehungen zwischen Deutschland und der
Ukraine haben eine ersreuliche Entwtckelun, genommeu,
und ein B-such des ukraintsche» Hetm,ns Skoropadski
beim deutschen Kaiser hat dem nach außen fichtbaren A«z-
druck yerliehen.

Kine Katastrophe.

Aus dem Leben eines alte» Eisenbahnbetriebsmanues.

Von Max Maria v. Weber.

Jch war im Jahre 184' Borstand einrr Station
im Mittelgebirge'). die, rach damalrgen Begriffen,
für einr wicht'ge galt, denn eS wündete da eine
Nebenbahn auS einem der reichsten Ackelbqudistrikte
in die Hauptlinie deS LandeS. ^

- Lie Station war nur für diese Einmündung er-
richtet und lag weit von jedem größeren Orte
entfernt, mrtten im Walde. Die Baulichkeiten be-
standru nur auS einem kleinen ^ StationShause,
deffen erflrs Geschotz ich mit meinem Strlloertreter,
dem „Schirrmeister". Sebhard mit Namen, be-
wohnte. und einer Remise für vier Lokomotioen.
von denen sich imwer eine alS Reseroemaschine
„im Feuer" befand. An die Remife war eine kleine
Werkstätte angebaut und beiden stand eia Oberloko-
motiosührer vor. Ein Billetteur wohnte im Stock-
werk übrr mir, dir Handwerker ünd Arbeitrr der
Station waren im aöchsten Torf untergebracht.

DaS Lsbrn der Welt berührte die Station nur
durch die sechS Züge, welche sie täglich pafsierten.
War der letztr v»n diesen abends vorübrr (Nacht-
verkehr gab eS nicht) und Feierabeud grlSutet, so

') Die Etationsvorstünde führrn aus mehrerm deutsche»
Sisenbahne» den Litel „Znspektor".

wurde eS tief einsam und rubig auf drr Statioa.
HStte die Maschine m drr Remise nicht leise ge-
zischt, fo hütte man sich in der Stille «nd brim
Duft und Rauschen deS WaldeS auf einer Förstrrei
wShnen könnrn.

Wir vier Beamten waren aufeinander an-
gewiesen, denn daS Besetzen der Stationen mituti-
nützen „feschen ProtektionSpuppen", die heutzutag«
mit dem Klemmer auf der Nase an drn Zstgen
auf und ab spazieren und nach den Stirfrlchen
der auSsteigendcn Damen schielen, war damalS
noch uicht Mode. Wir tatea die Arbeit, die nötig
war, ohne oiel zu fragen, wessen Rrflort ste fei.
und waren?- im Winter bei Bier und Tarock im '
kleinen Wartezimmer deS StationSbauseS und aa
Sommerabenden bei einem Glase Maitrank unter
den BLumen vor jenrm Hause, wo ich ein paar
PfahlbSnke und Tische hatte einfchlagen lassen, gute
Kameraden.

Aber Freund war ich uur mit dem Echirv-
meister Grbhard geworden. Er war schon bei
Jahren und ein Mensch wie Gold. Der eeste uud
letzte auf dem Platze, scharf und barsch gegen die
Leute im Dienst, und doch gingen sie alle für ihn
durchS Feuer, denn sie wutzten, datz er Herz für
ste hatte und sich selbst am wenigsten schonte. Er *
sprach nickt oiel und gar nicht von seinem frührren
Lebrn. So hatten wir nur auf Umwegen erfahren,
datz er, seineS ZeichrnS ein Radmacher, alS ftei-
williger Husar 1815 in drr Schlacht bei Ligny
einen Prinzen avS den Franzosen herauSgehauen
hatte, aber auch selbst zusammrngesäbelt worden
war. Er schleppte davon daS rechte Bein fein
Leben lang. Die AffLre hatte ihm aber doch —
nach dreitzig Jahren — zu seinem jetzigen Posten ,
verholfen. nachdrm er stch weit durch die Welt
getrieben und auch zwei Jahre bei eiuer englischen
Eisenbahn gedient hatte, waS ihn bei unS allr»
sehr in Refpekt setzte.

Er war Witwer, hatte aber halbwüchstge Kinder.
hübsche MSdelS, stramme Jungrn, — die er kaum
lirber haben konMe als ich Kinderloser.

Bei all dem war er eigentlich eine schwärme-
rische Natur, und weun die anderen alle zu Bette
gegangrn waren und er wutzte, datz autzer mir
eS niemand hörte, »konnte rr sich, an Sommrr-
abenden neben mir aus drr Bank sitzend, bi» tief
in die Nacht hiveiu i» allerhand Trüumereiea
 
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