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Badener Lazarett-Zeitung (Nr. 1-58[?]) — Baden-Baden, Juli 1916 - Dezember 1918

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Hefte 29-30, September 1917
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kaäener Lararetl-Leilung.

Nnmmer 29. keNage. 1.September 1917.

Nus dem

Vuche eines brrühmken Franrosen.

Die Wahrheit.

Bon Joseph Bertourieux.

Die Bibliothek meinesVaters enthielt eine Menge
Zeitschriften, wo ich schon als Jüngling manche
Abhandlung über die Lebensweise der Deutschen
und manche Reiseschilderungen aus der Zeit von
1820— 1868 gelesen habe; ich lernte so die ver-
schiedenen deutschen Volksstämme mit ihren Grund-
eigenschaften kennen, als da sind: Biederkeit,
Neigung für das Schöne, Arbeitsliebe, Achtung
vor dem Familienleben, Vorliebe für Unterhaltung
iu heiteren Gesellschaften, strebsamer Verstand.
Das war nicht die wohlwollende Ansicht eines
phantasiereichen, oberflächlichen Beobachters. sondern
vielmehr das Ergebnis einer gründlichen Unter-
suchung, deren Richtigkeit durch zahlreiche aus
dem Leben und Treiben der Städte und des Landes
genommene Beispiele nachgewiesen wurde.

Wenn ich nun höre, wie meine Landsleute
die Gegner herabsetzen, sie unterschiedslos, wenn
auch nur in gedankenlosem Nachsprechen, als
„Barbaren" bezeichnen, die in ihrer niedrigen
Denkungsart der ungeheuerlichsten Schändlichkeit
fähig sein sollen, suche ich zunächst zu ergründen,
welche ungeheueren Einflüsse physiologischer und
psychologischer Natur da maßgebend gewesen sein
mögen, um eine ganze Rasse in weniger als einem
halben Jahrhundert so von Grund aus umzuformen!
Jch suche aber vergebens, denn ich sehe ein, daß
es absurd ist, die Voraussetzung für eine solche
llmformung in den Umständen zu suchen, unter
denen sich das Leben in dem zeitgenössischen Europa
abspielt. Um die herrschende Ansicht meiner Mit-
bürger über die Deutschen einigermaßen erklärlich
zu finden, komme ich also zu dem Schluß, daß
die Umwandlung dieser letzteren überhaupt nicht
erfolgt ist, aber daß die Soziologen, die National-
ökonomen, die Reisenden aus dem bürgerlichen,
militärischen, geistlichen oder Laienstande, die im
XIX. Jahrhundert die Charaktere der Deulschen
gründlich studiert haben, sich alle miteinander
gröblich in ihnen getäuscht haben. Jch kann dies
aber auch nicht glauben, denn es gibt zu viele
Anhaltspunkte dasür, daß meine Landsleute unsere
Gegner aus Unkenntnis verleumden, und daß sie
hierzu von den beteiligten, offiziellen Kreisen auf-
gestachelt werden, um die kriegerischen Pläne der
Regierung damit zu fördern.

Wie könnte auch die Wahrheit in die große
Masse des Proletariats eindringen! Die Ver-
ständigen mißbrauchen das naive Vertrauen des
Volkes: Gewisse Personen schweigen, weil sie nicht
zu sagen wagen, was sie wissen, oder aber nicht
lügen wollen. Andere stimmen aus Geckenhaftigkeit
in den Chor der Berleumder ein, oder um die
Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu lenken,
die Auszeichnungen, Versorgungsposten oder materi-
elle Hilfe zu vergeben haben, und wetteifern unter
Aufbietung all ihres Witzes, um das Reguisitorium
des Deutschenhasses mit einer ganz besonders
originellen Anklage zu bereichern.

Nun beginnen die ehrlichen Menschen, die sich
durch persönliche Wahrnehmungen eine günstige
Ansicht über die Deutschen hatten bilden können,
sich allmählich unbehaglich zu fühlen; sie halten
mit ihrem Urteil zurück, da sie an ihrem eigenen
Scharfblick zu zweifeln anfangen; ihr ursprüngliches
Wohlwollen wandelt sich in Uebelwollen aus lauter
Achtung vor den erlogenen Versicherungen ange-
sehener Persönlichkeiten, die — wie z. B. der
Abbe Wetterle — die Gelegenheit wahinehmen,
um ihren alten Groll an den Deutschen auszulassen.
So wächst und kräftigt sich das seit fünfundoierzig
Jahren bestehende verderbenbringende Mißtrauen
und ist schließlich nicht mehr auszurotten. Und doch
könnten die zwei edlen Völker, deren Jnteressen
in vielen Punkten übereinstimmen, in aufrichtiger
Freundschaft, die dem Gegner die Fehler nachsieht.

verbunden sein, und so ein unbesiegliches Bollwerk
gegen die unerstättliche Herrschsucht Rußlands und
Englands bilden!

Diejenigen, welche noch eine Erinnerung an die
drei Jahrzehnte vor dem ersten deutsch-französischen
Kriege haben, werden wohl noch wissen, wie frucht-
bringend der Austausch wirtschaftlicher Güter
zwischen Franzosen und Deutschen gewesen ist, als
noch brüderliche Herzlichkeit die Beziehungen von
einem zum andern Rheinufer beherrschte.

Diejenigen Personen, denen die Verantwortung
für den Krieg im Jahre 1870 zu Last fällt, und
deren Unnachgiebigkeit der Grund war, daß man
so schnell zu den Waffen griff, haben sich eine Schuld
aufgeladen, die um so größer erscheint, wenn man
die Erinnerung an die einträchtige und fruchtbare
Zusammenarbeit wachruft, die uns früher mit
Mitteleuropa verbunden hat. Die Frage der Schuld
oder Nichtschuld der kaiserlichen Regierung ist
schwer zu entscheiden, zumal sich die politischen
Leidenschaften in den Streit gemischt haben; da
viele Zufälligkeiten in Betracht kommen, die ver-
schiedener Auslegung fähig sind, deren jede einzelne
einen Schimmer von Wahrheit hat, ist es besonders
schwer, die Schuld einer einzigen Person zuzu-
schreiben.

Aber selbst wenn man dies berücksichtigt, so
deuten doch alle Nebenumstände, die nur in richtige
Verbindung zu einander gebracht zu werden brauchen,
darauf hin, daß man es mit einem Hauptschuldigen
zu tun hat. Diese Persönlichkeit besaß zwar die
volle Freiheit des Willens und Handelns, war aber
der Verführung durch verderbliche Nebeneinflüsse
ausgesetzt. Es war dies der Kaiser Napoleon III.
Sobald man vorstehendes als feststehend annimmt,
ergibt sich daraus mit Folgerichtigkeit, daß Na-
poleon III. auch eine gewiffe entfernteVerantwortung
für das Entstehen gegenwärtigen Konfliktes trägt,
namentlich insoweit die außerordentliche Schärfe
dieses Konfliktes von unserer Seite aus in Betracht
kommt; da nämlich die früheren deutsch-französischen
Freundschaftsbande durch die Kriegserklärung im
Jahre 1870 zerrissen und mittelbardie Gelegenheit zur
Wiederherstellung des Deutschen Reiches geschaffen
wurde, bildet diese Kriegserkläruug sowohl sür
Europa als für uns im besonderen die Haupt-
quelle der internationalen Reibungen, die zum
jetzigen Weltbrand geführt haben.

Da ich ungeduldig darauf warte, diese Riva-
litäten einer näheren Untersuchung unterziehen zu
können, werde ich aus oben erwähnte Frage nicht
näher eingehen, zumal sie jedermann genügend
kennt; es wäre vielleicht aber doch angebracht,
rasch gewisse Nebenumstände zu präzisiereu und
auf ihre wahre Bedeutung hinzuweisen, da man
oft versucht hat, diese Nebenumstände zu entstellen
und meine Landsleute dadurch zu täuschen.

Stellen wir zunächst fest, daß Napoleon III.
den Kampf gegen Preußen in unvermessendster
Weise, und zwar mehr aus persönlicher dynastischer
Empfindlichkeit, als aus Rücksicht fürdie französischen
Jnteressen, unternommen hat; denn diese waren
durch die Kandidatur des Hohenzollern'auf den
spanischen Königsthron weder praktisch, noch auch
direkt derart bedroht, daß diese unermeßliche Ver-
geudung von Menschenleben, wirtschaftlichen Gütern
und Geldmitteln, die selbst ein siegreicher Krieg er-
fordert, gerechtsertigt gewesen wäre.

Merken wir uns ferner, daß der König von
Preußen dem Wunsche unseres Kaisers entsprochen
und selbst dessen nachträglich wiederholten For-
derungen vollständige Genugtuung gewährt hatte,
als dieser, um einen Bruch herbeizuführen, zu dem
niedrigen Vorwand griff. dem Könige seine unge-
zwungene Haltung vorzuwerfen — ein Vorwurf,
der übrigens inzwischen enlkräftigt worden ist —
und so den Kriegsgelüsten seiner Umgebung Rech-
nung trug. Die Art und Weise, wie diese Tatsache
von vielen Menschen in Frankreich beurteilt wird,
ist für mich ein Beispiel für unsere beklagenswerte
Jieigung, geschichtliche Vorgänge verschieden zu
beurteilen, je nachdem wir unseren Interessen zu-

lieb ste billigen oder tadeln müffen. Jn dem
französisch-preußischen Streitfall von 1870 erfindet
man Entschuldigungen für Napoleon III., weil er
das Schwert gezogen hat, nachdem er alles erlangt
hatte; im österreich-serbischen Streitfall von 1914
dagegen beschimpft man Oesterreich, weil es nicht
nachgegeben hat, als seine Hauptbeschwerde zurück-
gewiesen worden war. — O Gerechtigkeit, die meine
Mitbürger so innig lieben, wie können sie zulaffen,
daß man dich so entstellt! — ^Die aufrichtigen
Deutschenhasser, die derartige Ueberlegungen nie-
mals angestellt haben — weil sie in einer Täuschung
befangen sind — werden hiervon einen Augenblick
außer Fassung gebracht sein, und dann vielleicht
erwidern: „Gut, aber Bismarck war nichtsdesto-
weniger für den Krieg verantwortlich, da er
Napoleon durch Fälschung der Emser Depesche da-
zu gezwungen hat". Dieses Argument verliert
seine Beweiskraft, wenn man die folgenden zwei
Einwände beachtet: 1. Die Worte „den Text
fälschen" bezeichnen „seinen Sinn ändern". Nun
ist aber geschichtlich anerkannt, daß Bismarck die
Depesche von Ems nicht gefälscht hat; denn er hat
sich darauf beschränkt, daoon einen Teil veröffent-
lichen zu lassen — wie es manchmal unsere Zensur
auch macht; durch die vorgenommene Streichung
ist ihr Sinn nicht verändert worden. — 2. Weder
der vollständige noch der gekürzte Jnhalt der
Depesche hat irgend einen Anlaß zu einer ernsteren,
geschweige denn zu einer vollbegründeten Beschwerde
gegeben und infolge dessen auch keinen Kriegsgrund
bilden können.

Man fieht, wie durch diese Fälschungsgeschichte
die Wahrheit entstellt wird, die man doch durch
einfache Vergleichung der allgemein bekannten Wort-
laute leicht ermitteln könnte; auch weiß man, wie
sehr diese Darstellung den Deutschen in vnserer
Meinung geschadet hat.

Der Feind ist in unser Gebiet eingedrungen,
und wir befinden uns infolgedeffen in einem wirk-
lichen und rechtmäßigen Verteidigungszustand. Wo-
durch diese offenkundige Tatsache veranlaßt, und
wer von unseren leitenden Männern die schuldige
Verantwortung hierfür trägt, spielt hierbei keine
Rolle, solange dieser Zustand anhält, und kein
Vorschlag auf bedingungslose Räumung von Seiten
des Gegners erfolgt, wird der Kampf für alle
Bürger eine heilige Pflicht bleiben — und ferne
sei mir die ehrvergessene Absicht — sie davon ab-
wendig zu machen! —... Sollte - ber irgend ein
Ereignis die jetzige Natur dieses Verteidigungs-
zustandes in Frankreich mehr oder weniger ändern,
so wäre es durchaus nicht nötig, daß die Pflicht,
die sich hieraus — und hieraus ausschließlich —
ergibt, ausgebeutet, würde um den willkürlichen
Plänen derjenigen zu dienen, welche unter Heran-
setzung aller moralischen und materiellen Jnteressen
unseres Vaterlandes die Fortsetzung des Kampfes
bis zum Aeußersten wünschen.

Zum Vorteil für die Engländer und Russen
hat man Frankreich in ein blutiges und verderb-
liches Abenteuer verwickelt, das schon so weit
gediehen ist, daß wir den Gegner im Lande dulden
müssen. Damit hat man seine zu vertrauensselige
Fügsamkeit schon genügend mißbraucht. — Der
Krieg, um sich zu verteidigen? Ja! Der Krieg,
um ein höchst ungerechtes Programm der inter-
nationalen Politik zurchzusühren? Nein, denn der
Trauer und des Elends ist schon genug und über-
genug!

Jm Jahre 1870 71 waren die Kräfte ungleich,
und es blieb uns nichts anderes übrig, als uns
dem Kampfe ohne Aufschub zu unterziehen, um
unsere vollständige Vernichtung zu vermeiden.
Gegenwärttg besteht das Gleichgewicht der Kräfte,
oder die Wage neigt sich eher zu unseren Gunsten;
bei dieser Sachlage könnten wir, ohne unserem
Ehrgefühl zu nahe zu treten, unsere Friedensliebe
bekunden, indem wir mit Aussicht aus Erfolg die
Vermittlung der neutralen Mächte anrufen. Früher
rief man die Männer zu den Waffen, wenn die
 
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