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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 30.1914-1915

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Clemen, Paul; Bartholomé, Albert [Bearb.]: Offener Brief an Albert Bartholomé
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https://doi.org/10.11588/diglit.13093#0493

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neralstabes. Dreimal recht haben Sie, wenn
Sie sagen, daß in dieser Gegend fast jede
Stadt ihre Kunstschätze birgt. Schon Vorjahren
habe ich an der Hand der ausgezeichneten
Arbeiten von Lefevre-Pontalis dieses Gebiet
studiert, und ich kenne und liebe die köst-
lichen und feinen frühen Kirchenbauten (von
denen so viele in diesem letzten Jahrzehnt
durch Ihre Regierung vernachlässigt worden
sind) —, aber wie denken Sie sich, daß in
einer solchen Gegend überhaupt Krieg geführt
werden kann? Die sicherste Form, diese
Monumente preiszugeben, ist jedenfalls die,
sie zu Stützpunkten der Befestigungslinie zu
machen. Es sind leider unmögliche Dinge,
die Sie verlangen.

Und haben die Franzosen und Ihre Verbün-
deten, die Engländer und Belgier, nicht eben
auch auf französischem und belgischem Boden
zerstören müssen, wo es die militärischen Ope-
rationen mit sich brachten? Französische Gra-
naten haben die entzückende Kirche in Roye
in Trümmer geschossen, eine der erlesensten
Schöpfungen der feinsten Spätgotik in Ihrem
Lande, und wieviele Kirchen und Schlösser
sind bei dem Hin- und Herwogen des Kampfes
an der langen Schlachtfront von Ihnen selbst
vernichtet worden? Liegt nicht eine erschüt-
ternde Tragik darin, daß der König der Belgier,
der sein unglückliches Land liebt wie nur einer,
selbst helfen mußte, die ganze Stadt Dixmuiden
in ein Trümmermeer zu verwandeln? Die große
prachtvolle St. Nikolaskirche enthielt den schön-
sten und reichsten unter den Lettnerbauten
Flanderns. Dieses Meisterstück des Taillebert
stellte für die belgische Plastik des 16. Jahr-
hunderts ebenso die Höhe dar wie die Skulp-
turen von Reims für die französische Plastik
des 13. Jahrhunderts. Dieses Wunderwerk ist
durch Ihre Verbündeten, die Belgier und Eng-
länder, geopfert worden: ich fand vor einer
Woche nur noch einen wüsten Haufen kleiner
Steinbrocken dort, wo das von mir so bewun-
derte Werk sich quer durch die Kirche ge-
spannt hatte. Und Ihre französischen Granaten
fallen seit Monaten in Noyon ein. Die Front der
Kathedrale dort wies einst einen dem Reimser
Dom gleichkommenden Figurenschmuck auf,
bis — ja bis Ihre Landsleute diese Herrlich-
keit in der großen Revolution zerstörten. Wie
wird es sein, wenn ein Geschoß auf die
Kathedrale fällt? Ich hoffe, diese Trauer bleibt
uns und Ihnen erspart.

Sie sprechen von Belgien, und hier muß
ich Sie korrigieren. St. Peter in Löwen ist
wirklich erhalten bis auf das abgebrannte Dach
und den Dachreiter; das Notdach ist unter
meinen Augen als ein sehr solider Schutz ent-

standen. Welche entstellten und falschen Quel-
len lagen Ihnen hier vor? Vielleicht haben Sie
eine Photographie der Westfront oder des süd-
lichen Querschiffes gesehen: — die seitliche
Vorhalle ist im 15. Jahrhundert unvollendet
stehen geblieben — und der Südturm der Front
fehlt schon seit 1612; seitdem steht die Ruine
da: Nein, das dürfen Sie den bösen Deutschen
wirklich nicht auf das Schuldkonto setzen.

Meine Mitteilungen über die Möglichkeit der
Wiederherstellung betrafen die in meinem ersten
Bericht über die Verluste in Belgien genann-
ten Bauten. Ich muß sehr darum ersuchen,
diese nicht fälschlich zu generalisieren oder
auf andere Denkmäler zu beziehen. Bei den
Bauten in Mecheln, Löwen, Lier, Dinant han-
delt es sich um Ausflicken, zum Teil um Er-
satz des verbrannten Daches, um ganz einfache
Arbeiten, und ich glaube das Recht bean-
spruchen zu dürfen, mich hierüber als Sach-
verständiger zu äußern. Das Rathaus zu Arras
freilich, das unsere Geschosse zerstören muß-
ten, und Kirche und Rathaus zu Dixmuiden,
die den Granaten Ihrer Freunde zum Opfer
gefallen, sind nicht mehr herzustellen und das
ist für uns wie für Sie ein bitterer Schmerz.
Aber wem sagen Sie, daß es theoretisch eine
künstlerische Unmöglichkeit ist, eine gotische
Statue zu restaurieren? Ich könnte freilich
erwidern, daß Viollet-le - Duc in Paris oder
Boeswillwald in Läon fast den ganzen Skulp-
turenschmuck erneuert haben — und was man
einmal in Reims tun wird, wer weiß es?

Sollen wir uns wirklich nur Bitterkeiten
sagen ? Ihr Landsmann Romain Rolland hat in
seinem Aufruf „Zwischen dem Ringen" die
Abwendung vom Haß gepredigt. Aber diese
Predigt sollte, scheint mir, zuerst in Paris ge-
halten werden. Wenn Ihre Landsleute doch
wenigstens Verständnis hätten für das unver-
gleichlich Heroische in der Stellung des Deutsch-
tums, das sich ganz allein gegen die Ver-
schwörung der halben Welt hält! Nein, wir
wollen nicht mit den gleichen Waffen antwor-
ten. Nur den Tatbestand wollen wir feststellen,
das ist unser Recht — und unsere Pflicht.
Die Welt ist überschwemmt worden mit den
lächerlichen Broschüren über angebliche Greuel
nach den veralteten Klischees, die zu der Le-
gendenbildung eines jeden Krieges gehören, mit
Dingen, an die ernsthaft keine Menschen von
Erziehung glauben, wenn sie sich nicht in ei-
ner Psychose befinden. Unsere Regierung, der
Berge von Berichten aus Belgien und Rußland
vorliegen, hat es abgelehnt, mit gleicher Münze
zu zahlen, weil es gegen die Würde und gegen
den guten Geschmack verstößt. Gegen den
guten Geschmack, als dessen Hüter einst das

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