VAN GOGH UND DIE NEUEN RICHTUNGEN DER MALEREI
Von Wilhelm Trübner
Die Bilder van Goghs haben vor ungefähr
10 Jahren bei ihrem ersten Erscheinen
im Salon Cassirer in Berlin das größte Auf-
sehen bei allen Kunstverständigen erregt, weil
in diesen Werken eine außergewöhnlich stark
entwickelte Farbenanschauung sich offenbarte;
wenn auch der Mangel an formalem Können
störend in qualitativer Beziehung auffiel, so
konnte dadurch der große Erfolg des Meisters
doch nicht aufgehalten werden. Von jeher ist man
gewohnt, die Größe eines Künstlers nach der
Höhe seines Könnens zu beurteilen; deshalb
mußte man sich angesichts dieser Bilder sagen:
hätte van Gogh zugleich über ein hohes künst-
lerisches Können verfügt,sowäre er dengrößten
Meistern aller Zeiten ebenbürtig an die Seite
zu stellen, während er so, wie er tatsächlich
vor uns steht, sich zu diesen verhält wie etwa
Hans Sachs zu Shakespeare oder wie Andreas
Hofer zu Napoleon Bonaparte.
Trat man jetzt im Juni 1 914 im Salon Cassirer
vor die über 100 Nummern zählende Kollektion
van Goghscher Werke, so mußte man in Be-
PETER HALM BILDNISSTUDIE
rücksichtigung der kurz bemessenen Lebens-
dauer dieses Künstlers auf den Gedanken
kommen, daß das Fehlen eines höheren Kön-
nens in diesem Falle sogar notwendig war, da-
mit das in diesem Meister schlummernde Roh-
material, wenn auch noch unbearbeitet, so rasch
wie möglich sich an die Oberfläche heraus-
arbeiten konnte. Tatsächlich ist uns durch das
Erscheinen der Werke van Goghs ein Neuland
erschlossen, das groß genug erscheint, um
mehrere Generationen mit dessen weiterem
Ausbau beschäftigen zu können.
Nachdem nun durch die Erfolge dieses Kunst-
phänomens es möglich erschien, auch Werke
von bleibendem Werte zu schaffen, ohne sich
vorher mit dem nur mühsam zu erlernenden
Handwerk abgeplagt zu haben, entstanden bald
zahlreiche Richtungen in aller Herren Länder,
die sogar mit Uebertreibung dieser Erkennt-
nis sowie gestützt auf noch andere ähnliche
Erscheinungen dieser Art das künstlerische
Können vollständig ausschalteten und damit
das Bildermalen unendlich erleichterten. Ebenso
leicht wie es nach der Entdeckung Ame-
rikas geworden war, Amerika nochmals und
abermals zu entdecken, ebenso leicht war es
jetzt mit Hilfe dieser Art von Malerei die Welt
immer von neuem zu verblüffen. Parallel-
erscheinungen dieser Mode waren bereits bei
der Ballettkunst durch die Barfußtänzerinnen
und innerhalb der medizinischen Wissenschaft
durch die Naturheilkünstler aufgetaucht, die
mit ähnlichen Mitteln die Schwierigkeiten ihres
Berufes hinwegräumten, dadurch einen großen
Anhang um sich versammelten und eine große
Macht auszuüben imstande waren.
Trotz alledem steht aber auf dem Gebiete
der Malerei die Existenzberechtigung dieser
jungen Richtungen außer Frage, denn sie haben
sich naturgemäß und logisch aus dem Vorher-
gehenden entwickelt. Ja sie sind sogar aufrich-
tigst zu begrüßen, weil sie geeignet erscheinen,
wichtige Bestandteile der Kunst wie den Mut,
die Kühnheit, die jugendliche Ausgelassenheit
und Naivität dem künstlerischen Schaffen
wieder zurückzuerobern, Eigenschaften, die
durch langweilige Schulmeisterei und ängstliche
Pedanterie systematisch ausgetrieben waren.
Wollte man jedoch diese jungen Richtungen
allein herrschen lassen, wie es die stürmische
Jugend verlangt, so würden wir uns rasch
einer künstlerischen Anarchie zuwenden; wie
in der Politik so gilt es auch in der Kunst,
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Von Wilhelm Trübner
Die Bilder van Goghs haben vor ungefähr
10 Jahren bei ihrem ersten Erscheinen
im Salon Cassirer in Berlin das größte Auf-
sehen bei allen Kunstverständigen erregt, weil
in diesen Werken eine außergewöhnlich stark
entwickelte Farbenanschauung sich offenbarte;
wenn auch der Mangel an formalem Können
störend in qualitativer Beziehung auffiel, so
konnte dadurch der große Erfolg des Meisters
doch nicht aufgehalten werden. Von jeher ist man
gewohnt, die Größe eines Künstlers nach der
Höhe seines Könnens zu beurteilen; deshalb
mußte man sich angesichts dieser Bilder sagen:
hätte van Gogh zugleich über ein hohes künst-
lerisches Können verfügt,sowäre er dengrößten
Meistern aller Zeiten ebenbürtig an die Seite
zu stellen, während er so, wie er tatsächlich
vor uns steht, sich zu diesen verhält wie etwa
Hans Sachs zu Shakespeare oder wie Andreas
Hofer zu Napoleon Bonaparte.
Trat man jetzt im Juni 1 914 im Salon Cassirer
vor die über 100 Nummern zählende Kollektion
van Goghscher Werke, so mußte man in Be-
PETER HALM BILDNISSTUDIE
rücksichtigung der kurz bemessenen Lebens-
dauer dieses Künstlers auf den Gedanken
kommen, daß das Fehlen eines höheren Kön-
nens in diesem Falle sogar notwendig war, da-
mit das in diesem Meister schlummernde Roh-
material, wenn auch noch unbearbeitet, so rasch
wie möglich sich an die Oberfläche heraus-
arbeiten konnte. Tatsächlich ist uns durch das
Erscheinen der Werke van Goghs ein Neuland
erschlossen, das groß genug erscheint, um
mehrere Generationen mit dessen weiterem
Ausbau beschäftigen zu können.
Nachdem nun durch die Erfolge dieses Kunst-
phänomens es möglich erschien, auch Werke
von bleibendem Werte zu schaffen, ohne sich
vorher mit dem nur mühsam zu erlernenden
Handwerk abgeplagt zu haben, entstanden bald
zahlreiche Richtungen in aller Herren Länder,
die sogar mit Uebertreibung dieser Erkennt-
nis sowie gestützt auf noch andere ähnliche
Erscheinungen dieser Art das künstlerische
Können vollständig ausschalteten und damit
das Bildermalen unendlich erleichterten. Ebenso
leicht wie es nach der Entdeckung Ame-
rikas geworden war, Amerika nochmals und
abermals zu entdecken, ebenso leicht war es
jetzt mit Hilfe dieser Art von Malerei die Welt
immer von neuem zu verblüffen. Parallel-
erscheinungen dieser Mode waren bereits bei
der Ballettkunst durch die Barfußtänzerinnen
und innerhalb der medizinischen Wissenschaft
durch die Naturheilkünstler aufgetaucht, die
mit ähnlichen Mitteln die Schwierigkeiten ihres
Berufes hinwegräumten, dadurch einen großen
Anhang um sich versammelten und eine große
Macht auszuüben imstande waren.
Trotz alledem steht aber auf dem Gebiete
der Malerei die Existenzberechtigung dieser
jungen Richtungen außer Frage, denn sie haben
sich naturgemäß und logisch aus dem Vorher-
gehenden entwickelt. Ja sie sind sogar aufrich-
tigst zu begrüßen, weil sie geeignet erscheinen,
wichtige Bestandteile der Kunst wie den Mut,
die Kühnheit, die jugendliche Ausgelassenheit
und Naivität dem künstlerischen Schaffen
wieder zurückzuerobern, Eigenschaften, die
durch langweilige Schulmeisterei und ängstliche
Pedanterie systematisch ausgetrieben waren.
Wollte man jedoch diese jungen Richtungen
allein herrschen lassen, wie es die stürmische
Jugend verlangt, so würden wir uns rasch
einer künstlerischen Anarchie zuwenden; wie
in der Politik so gilt es auch in der Kunst,
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