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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 51.1935-1936

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Bauer, Walter: Der Seufzer des Genius
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https://doi.org/10.11588/diglit.16483#0240

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Der Seufzer des Genius. Von Walter Bauer

Die Bilder der Meister, die wir in Ausstellungen
und Sammlungen betrachten, noch mehr die Zeich-
nungen, die unter allen Kunstwerken die „geistigste
Natur" besitzen und in denen die Geburt des Ge-
nius immer gegenwärtig vor unseren Augen zu ge-
schehen scheint, — Zeichnungen und Bilder ent-
halten nichts anderes als die Schlacht des Geistes
mit der Welt und seinen Sieg, erfochten durch
einen Menschen in völliger Einsamkeit mit einem
Stift oder einem farbengetränkten Pinsel. Noch die
Blätter von wenig Zentimeter Länge sind Schlacht-
felder teuerster Art: der Sieger wird mit nichts als
dem Gelingen seiner Arbeit belohnt.
Wie viele Augen haben auf den Bildern aller Jahr-
hunderte geruht; sie aber verlieren nicht und strö-
men ungefragt ihr Licht und ihre Dunkelheit aus.
Die Häuser, Gärten, Früchte und Frauen, süß und
streng und flammend erschaffen, erscheinen dauer-
hafter als die wirklichen Dinge. Meine Augen wer-
den zerfallen, aber die gemalten Blicke werden im-
mer neue Betrachter anziehen.

Aus den unzähligen Blättern, welche die Kunst der
Völker ausmachen, erhebt sich dem Aufmerksamen
die Geschichte von Augen, die ihre äußeren und
inneren Weltanblicke nicht für sich bewahren konn-
ten: es erhebt sich ergreifend die Geschichte von
Händen, die nach einem Stift oder einem Pinsel
griffen — irgendwo, im Freien in allen Erdteilen,
im Anblick eines Baches, einer Küste, eines strah-
lenden Himmels, eines Gesichtes, edel wie aus dem
Paradies oder von Nacht überflutet, — oder in
einem Baum, mönchisch leer, von Lppigkeiten er-
füllt oder still oder tobend von vielen Stimmen. —
in einem Räume mit dem Blick auf die Welt, wie
sie Vincent van Gogh aus dem Atelier am Schenk-
weg im Haag sah, — oder mit dem Auge nach in-
nen spähend, nach Gestalten, die sich aus dem Ne-
bel hoben . . .

Immer war ein Blatt, eine Leinwand, eine Hand,
alles umfassend ein Auge, das die Welt einsammelt.
Welcher Epoche die Maler auch angehören und was
sie immer darstellen: das Heilige und Zarte wie
das Tägliche und das Gemeine —: immer war ein
Herz, glücklich oder im Leiden verloren, zitternd
vor dem Gedanken der Unfähigkeit, doch in jedem
Falle entschlossen, sich Klarheit zu verschaffen über
die Welt, die in der Schönheit eines Frauenarmes
so wunderbar enthalten ist wie in der Bewegung
eines bäuerlichen Mädchens, niedergesunken im
Schatten von Getreidesäcken, — wir spüren die
schlagenden Herzen gestorbener und lebender
Maler.

Ich sehe — und mein Blick geht über alle Länder
und über alle Zeiten — junge und reife und alte
Männer und Frauen, einBlattPapier auf denKnien
oder auf dem Tisch, in der Hand die Waffe des
Künstlers, — plötzlich lebt ein Baum, ein Gesicht,
eine Welt. Ich sehe die Gesichter dieser geduldig-

sten Arbeiter, und es ist mir. alle, die ich kenne,
verschmelzen zu einem Antlitz, gespannt in der von
niemandem belauschten Anstrengung, die reine
Wahrheit eines Wesens auszusprechen. Ich sehe das
gelblich blasse Gesicht von Delacroix, das Gesicht
des Krüppels aus dem alten Geschlecht der Grafen
von Toulouse, den Feuerkopf aus Arles, das Ant-
litz Caspar David Friedrichs als einen Quell der
Einsamkeit — all ihre Gesichter trugen im Augen-
blick der Schöpfung einen unbeschreibbaren Zug
von Entrückung und Abwesenheit; sie waren ihrer
Sorge und Not enthoben, ihr Leben war nur noch in
ihrem Auge, und ihr Auge lebte in der Anschau-
ung des Dinges vor ihnen, das ihnen wichtiger war
als jedes Ereignis ihrer Zeit, wichtiger als Sieges-
ruf und Krönung eines Königs; ihr Schicksal lag
in diesem über Stunden, Tage, Wochen ausgespann-
ten Augenblick in der Erschaffung eines Armes,
einer Frucht, gleichgültig welches Ding in ihrem
Auge war, ein lebendiges oder totes, aber auch das
tote lebend wie ein anderes.

Dies gilt von allen. Warum machten sie das? War-
um verwandten sie unwiederbringliche Stunden
daran, immer und immer wieder die Linie eines
Rückens zu zeichnen oder einen Arm — nur, um
den tiefen, geheimnisreichen Schatten der Achsel-
höhle zu treffen? — warum die Landschaften, die
Anblicke von Meer und Menschen? Für wen opfer-
ten sie ihr Leben, für wen dienten sie der wunder-
vollsten und schrecklichsten Herrin, die Glück und
Einsamkeit in einem Atemzug schenkt: der Kunst?
Warum vergießen sie durch alle Zeiten ihr teuer-
stes Leben in eine Leinwand und in ein Blatt, das
gelb wird?

Unter den Zeichnungen von Daumier, der seine
zornige Klage über das Leben der Menschen mit-
einander in seinen bitternisgetränkten Zeichnungen
ausströmte, sind einige Blätter, auf denen Don Qui-
chotte zu sehen ist, der Ritter der ergreifenden
Narrheit, über den wir nicht lachen können, ohne
ihn zu lieben und zu ehren. Auf einem Blatt ist der
närrische Bitter vom Pferde gestürzt und kugelt im
Staub des Weges, indes Sancho Pansa schallend
lacht . . . Der Dicke, zitternd vor Gelächter — das
ist die Welt, die über den Maler lacht, der in der
Welt etwas anderes sucht, als sie ist, und die Maler
sind eine Armee von Don Quichottes, ergriffen ein
jeder von einer Idee, die er glaubt bis zum Ende
durchführen zu müssen, weil sonst das Leben schal
und abgestanden schmecken wird, — und die Welt
lacht über sie. Erinnert man sich an die Worte eines
Kritikers im ..Tintamarre"" über die ,.Olympia"'
von Man et? ,,Herr Manet wird es uns verzeihen,
daß wir uns vor seinem Bild bucklig gelacht haben.'"
Hören die Quichotterien eines Malers nicht auf, so
wird das Lachen zum bösartigen Grinsen — zum
tödlichen Schweigen, tödlich wie die Kälte des
Weltraumes. Der Kunst dann noch zu dienen und

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