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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 51.1935-1936

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Rüdiger, Wilhelm: Münchens Kunstsituation
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Münchens Kunstsituation. Von Dr. Wilhelm Rüdiger

Zwischen München, der neuernannten ..Kunststadt
des Reiches", und dem alten Kunst-München, das
zwar ungekrönt, doch diesen Namen vor allen an-
deren Städten beanspruchen konnte, liegt es -wie ein
Tal, liegen die Aschenputteljahre Münchens. Es
sind jene Jahre, in denen es ein unverkennbares
Zeichen fortschrittlicher Gesinnung war, auf Mün-
chen und seine Kunst herabzusehen. Man malte mit
ironischen Worten in der Staubdecke, die sich ja
wohl ein wenig über alles, was in der Isarstadt
Kunst genannt wurde, gelegt hatte, man lächelte
aufgeklärt und maßlos sachlich über die nicht mehr
ganz glaubhafte dekorative und theatralische Pracht
der großen und kleinen Lenbachs. Der pompöse
Stuck war mit den Jahren bröckelig geworden. Es
war nicht zu leugnen. Dennoch nannten das die
einen ihre Tradition, was für die anderen Reaktion
und Vergreisung hieß. Die "Wahrheit aber lag wie-
der einmal in der Mitte.

Hundert Jahre gelehrtes und gelerntes Malhand-
werk, hundert Jahre Geschmacksschulung sind ein
Wert, von dem auch in mageren Zeiten noch lange
zu zehren ist. Aber es soll nicht übersehen werden:
tatsächlich verließen viele der Besten, Vorstoßen-
den München, um in der erregenderen vibrierenden
Atmosphäre anderer Städte ihre Kunst näher an
das Leben heran und in die Gegenwart hineinzu-
führen.

Münchens Kunst steht heute an einer Entscheidung.
Die Berufung durch den Führer, Kunststadt des
Reiches zu sein, verlangt von ihr Erneuung und
Verjüngung. Leerer, wenn auch lieb und gewohnt
gewordener Zierat muß abgeschlagen werden. Die
Kunst Münchens muß lernen zu sagen, was notwen-
dig, nicht nur was angenehm und gefällig ist. Knap-
per, stärker und männlicher muß ihre Sprache wer-
den, und sie soll sich sogar das Herz nehmen, auch
einmal kühn zu sein, kühn und neu wie die junge
Bewegung im Politischen und in der Neuformung
des gesamten Lebens. Und sie darf es. Denn nir-
gendwo in Deutschland ist die Sicherheit und Ge-
sichertheit künstlerischen Empfindens so groß, wie
in München. Um so erstaunter ist man immer wie-
der, daß in dieser Stadt, wo so viel künstlerisch-
handwerkliches Können überall als schöne Selbst-
verständlichkeit da ist, der Weg der künstlerischen
Arbeit verhältnismäßig selten über die Freude an
der gekonnten Malerei, an den geschmackvoll und
souverän beherrschten Mitteln hinaus, bis hinauf in
die Gestaltung geistiger Probleme, bis in die For-
mung künstlerischer Gesichte führt. Vielleicht hat
es der Virtuos, der glänzende Techniker, besonders
schwer, sich und sein Können hinzugeben als Werk-
zeug an die großen wirkenden Kräfte.
Man muß sich die allgemeine Münchner Situation
klar machen, um das künstlerische Heute dieser

Stadt zu verstehen. Vielleicht kann das nur der, der
in dieser Stadt zu Hause ist. Der Fremde sieht rasch
immer nur die Schwäche, das Beharrungsvermögen,
bei dem man sich zufrieden gibt, ohne die zugleich
vorhandenen geheimen starken Kräfte zu fühlen.
Auch die neueGroßeMünchnerKunstausstellungdes
Jahres 1956, die vor kurzem eröffnet wurde, zeigt:
München ist nicht modern. Vieles ist sogar (bei
einer Künstlerschaft von verschiedenen Tausend an
der Zahl schließlich kein Wunder!) recht epigonal.
Leere Hülle ehemals lebendiger Gestalt. Und dort,
wo das Neue ist, findet man nichts Uberraschendes,
aber man fühlt in vielem jungen Münchner Schaf-
fen eine ruhige, schlichte, aufbauende Stärke. In
allen Künstlergemeinschaften erobern sich diese
neuen Kräfte sehr langsam, doch dafür sehr sicher,
das Terrain. Die professorale Münchner Malerei,
die alten Ruhm in kleine, beim Reisepublikum der
Welt gangbare [Münze umsetzt, erscheint nur noch
an der Peripherie der großen, ernstzunehmenden
Kunstausstellungen. Gerade die diesjährige Schau
in der Neuen Pinakothek, dem provisorischen Er-
satzglaspalast, zeigt in den Hauptsälen die Jungen
an entscheidender Stelle. (Jugend ist dabei keine
Frage der Jahre.) Wenn man etwa die Bilder von
W. P. Schmidt, Hötzendorff, Burkart. Rauh, Gei-
genberger, Graßmann, Nerud, Pallas, Lamprecht,
Protzen-Kundmüller, Scharrer, C. O. Müller. Euler,
Unold, Doli, Geiseler, Gött, Hüther u. a. sieht und
auch, wenn man vor den Arbeiten der brauseköpfi-
gen Ritter von der brennenden Farbe und der furio-
sen Malerei aus dem Casparkreis steht, dann weiß
man mit Gewißheit, die Stagnation in München
wird überwunden, sie ist es bereits, langsam gerät
alles wieder in Fluß. Hinter der Einfachheit und
Verschiedenartigkeit der Formung aber wird doch
eine innere Verwandtschaft in der künstlerischen
Zielrichtung aller spürbar.

Man weiß im Reiche gar nicht, wie viel junge
Kunst in München ist. Es müßte endlich einmal ge-
schehen — schon um aus dem Namen „Kunststadt
des neuen Reiches" ein allen sichtbares Ereignis
werden zu lassen, in dem das Recht der Berufung
bestätigt wird —, daß diese Jugend sich dem Reich
in einer großen Ausstellung vorstellt. Sicher zwan-
zig junge Bildhauer und um ein Beträchtliches mehr
an Malern, alle von recht achtbarer Qualität, würde
man zusammen sehen. Welche deutsche Stadt könnte
eine solche junge Mannschaft, in der bei allem
Jungsein die Tradition in jenem erhaltenden Sinne
lebendig ist, tagtäglich aufstellen? Demgegenüber
wird der riesige Ballast der Vielzuvielen, nach dem
München immer gemessen wird, bedeutungslos.
Denn überall ist es so, daß die Phalanx der Vor-
wärtsschreitenden schmal ist.

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