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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 57.1941-1942

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Gravenkamp, Curt: Selbstdeutung im Selbstbildnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.16490#0065

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vom Vermögen der Erinnerung ebenso wie vom
\ ermögen der \ orahnung. Im Selbstbildnis der
Jugend mag zumeist das Vorahnende die überwie-
gende Stimmung sein, aus der seine spezifische Form
sich ergibt. In der Selbstdarstellung des 15jährigen
Dürer (Wien. Albertina) liegt „etwas von dem stau-
nenden Erwarten, mit dem das Genie den Eindrücken
der Welt entgegengeht" (Wölfflin). Rembrandts Ju-
gend-Selbstbildnisse sind — wenn auch in anderer
Weise — von der gleichen problemerfüllten Frage
durchdrungen, die das produktive Jugendalter an das
Schicksal des ganzen Lebens stellt, und gerade bei
Rembrandt wird es deutlich, wie die innere Proble-
matik sich fast zwangsläufig aus dem Widerschein
des eigenen Gesichts im Spiegel einstellt, mit einer
noch schwankenden Zuversicht, hinter der puren Er-
scheinung des Ich der Urform des Selbst habhaft wer-
den zu können. Am stärksten wohl ist dieser magische
Zwang, mit welchem im Jugendalter das Ich dem
Selbst schöpferisch auf die Spur zu kommen trachtet,
in Dürers Selbstporträt aus der Zeit der Wander-
schaft am Oberrhein (Erlangen, Universität) Gestalt
geworden: denn hier scheint sich eine jäh aufge-
tauchte Gewißheit über den Sinn der eigenen Exi-
stenz dem, der seinem Spiegelbild sich gegenüber be-
findet, fast hellseherisch geklärt zu haben.
Demgegenüber wird das Selbstbildnis des Alters in
seiner geistigen und formalen Struktur am stärksten
von der Kraft der Erinnerung und der produktiven
Rückschau auf die Vergangenheit gestaltet. Die
Parallele zwischen Selbstbildnis und Autobiographie
mag hier zur Klärung dienen. Nietzsches „Ecce
Homo" — kurz vor dem Zusammenbruch des Jahres
1889 in rasendem Tempo geschaffen — kann als Do-
kument einer dämonisch determinierten schöpferi-
schen Rückschau auf ein schöpferisch gelebtes Leben
bezeichnet werden. An weit zurückliegende Lebens-
phasen — durch die zugehörigen Werke ausschließ-
lich repräsentiert — werden erneut Forderungen ge-
stellt, und die Bedeutung dieser Stadien wird noch
einmal auf die Gesamtheit des eigenen Ich und auf
ihre Stellung im Gang der gesamten Entwicklung
bezogen. Aus dem ganzen Werk und seiner Disposi-
tion, aus dem Rhythmus der Abschnitte, dem Tonfall
der Sätze, ja aus Klang und Tenor der einzelnen
Worte spricht eine innere, niemals zur Ruhe kom-
mende Erregtheit, die aus dem Selbst, je mehr sie es
kompliziert, ein um so größeres, umfangreicheres, ja
nahezu unendliches Problem macht. Die Zeit kann in
dem, der über sich selbst produktiv reflektiert, nicht
zur Ruhe kommen, und nur in Fragmenten gelangt
das Ich zur Selbstschau seines Selbst.
Eine verwandte Einsicht mag die tiefere Ursache da-
für gewesen sein, warum Rembrandt in seinem Alter
so viele Selbstbildnisse von sich schuf. Jedes von
ihnen ist eine besondere und von allen anderen unter-
schiedene Form der Auseinandersetzung mit diesem
vielleicht tiefsten der Selbstgestaltung zugrundelie-
genden Problem. Gemeinsam aber ist ihnen allen die
Einsicht, daß allein Erinnerung und Rückschau
dem gelebten Leben die letzte Form zu geben ver-
mögen: hier erst wandelt sich das Paradigma des
Zeitlichen in die Symbolik des Ewigen. ..Stufenwei-
ses Zurücktreten in die Erscheinung" — so hat

Goethe die Lebensphase des Alters genannt und da-
mit zugleich deren Gesetz bestimmt, nach welchem
eine wesentlich gewordene Existenz sich wieder auf-
lösen soll und nach welchem die Person, nachdem sie
einmal Persönlichkeit war, in den großen Zusam-
menhang sich zurückverwandeln muß. So verschwin-
det das Ich zuletzt in seinem eigenen Schein, und am
wesenlosen Abbild formt sich das Bildnis sinnbildlich
zur Wesenheit. Erst jetzt vielleicht entsteht so das
Selbstbildnis im tiefsten Sinn des Wortes, weil erst
jetzt das Ich wirklich zum Selbst geworden ist.
So sind in den Selbstbildnissen des alternden Rem-
brandt alle Phasen seines Lebens aktiv am Werk:
völlig jugendliche Erlebnisse stehen als Traum und
als Problem neben männlich charakterfest gehärte-
tem Stolz und gleichzeitig neben der letzten Reife
von Einsicht und Entsagung. Die Bildnisse aus den
Jahren 1655 bis 1659 führen durch alle diese Sta-
dien hindurch, die in kurzer Zeitspanne noch einmal
mit ungewöhnlicher Intensität durchlebt werden und
an denen alles Ephemere sich zu sinnvoller Zeitlich-
keit geklärt hat: die besonderen Merkmale der ver-
schiedenen Lebensstufen sind zu Sinnbildern gewor-
den, mit denen die Summe dieser Existenz sich an
dem Punkt darstellt, an welchem ihr zeitlicher Ab-
lauf schon fast vollendet ist. Selbstschau wird zu
einer Einsicht in die Fülle der Gesichte der ver-
schiedenen Altersstufen. So vieldeutig nun Rem-
brandts Alters-Bildnisse sind, wenn man sie un-
tereinander vergleicht, so vieldeutig ist auch jedes
einzelne von ihnen für sich genommen. Auf den er-
sten Blick scheint eine Stimme die Führung zu haben,
als Stimme der Enttäuschung oder des Stolzes, des
Mißtrauens oder der Schwermut, als Stimmen ver-
sunkener Jugend, erprobter Reife oder nahenden letz-
ten Alters. Aber bei näherem Zusehen ist dies alles
in jedem einzelnen von ihnen. Wohl sammelt ein zu
einmaligem Ausdruck verdichtetes Erlebnis alle an-
deren zu besonderer Haltung, aber dieses Zentrum
birgt in sich schon eine so unendliche Mannigfaltig-
keit, wie sie nur aus einem langen und von stärksten
Erlebnissen ständig erschütterten Leben hervorgehen
kann. Einmal (1659, London, Privatbes.) stehen in dem
erstarrten Gesicht große brennende Augen, von allen
guten Geistern jugendlichen Feuers beseelt. Aber
diese Seele ist zugleich entgeistert und dieses Feuer
ist zugleich im Verlöschen. Ein anderes Mal (1659.
Aix, Mus.) — fast zur selben Zeit — sieht der gleiche
Mensch völlig greisenhaft aus dem Spiegelglas her-
vor, mit der skeptischen Maske eines vom Leben Ver-
witterten und Zerstörten,

Hier sind Charakter und Schicksal in einen Einklang
geraten, und mit Werken dieser Art erfüllt das Selbst-
bildnis seinen eigentlichen und tiefsten Sinn, indem
es, mit der resümierenden Wandlung des Ich durch
die Phasen des Lebens eine Steigerung und Klärung
des Selbst erfahrend, zu einer endgültigen Schau in
das Überpersönliche vordringt. Diese aber wird sicher
nur dem höchsten Alter zuteil: Rembrandt hat sie in
den Selbstbildnissen der allerletzten Lebensjahre er-
reicht, und ebenso haben Tizian und Tintoretto, Ru-
bens und Greco im höchsten Alter das eigentliche und
tiefste Rätsel des Selbstporträts als Wesensdeutung
des Selbst zu lösen vermocht.

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