keiner Zeit war Strenge aber unentbehrlicher als heute,
wo es nicht nur an heilsamen Hemmungen ungezügelter
Willkür fehlt (wie die alten Innungs-Grundsätze etwa
sie übten), sondern wo thatsächlich Alles fehlt, was
zunächst eine Übereinstimmung der Wertmaassstäbe
in künstlerischen Dingen seitens einer ausschlaggebenden
gesellschaftlichen Oberschicht herbeiführen könnte. Es
herrscht über nichts eine feste Meinung; darum heisst
das drollig dumme Losungswort: „Alles ist erlaubt". Die
Künstler haben den Schaden davon, der für den Spott
nicht zu sorgen braucht. Mit dem allein zuverlässigen
wieder ein neues Binden. Graf Harry Kessler betont in
seiner gut gemeinten Vorrede zum Darmstädter Katalog:
„wie Luther muss jeder anständige Künstler von seinem
Werk bekennen können: Hier steht es, Gott helfe mir,
ich kann nicht anders." Sehr hübsch, wenn auch nicht
neu und tief gesagt; aber hier trifft der Vergleich leider
nicht das Wesen der gegenwärtigen Kunstkrisis. Es ist
nicht immer Bekennermut, der laut aus Farben und
Linien schreit. Vor manchem Bilde habe ich das pein-
liche Misstrauen gegen die Lutherseele des Urhebers:
der thut nur so, als könnte er nicht anders! Eine innere
LEOPOLD VON KALCKREUTH, DIE ANGLER
Maassstab, mit dem irgendein Kunstwerk von heute so
sicher gemessen werden kann wie eines vor hunderten von
Jahren, ob es in Kopenhagen oder in Kairo, an derThemse
oder am Arno entstand, mit diesem einfachen, sichern
Maassstabe, der nicht „alt" oder „modern", sondern gut
oder nicht gut unterscheidet, scheinen gegenwärtig
wenige Kritiker und noch weniger Käufer von Kunst-
werken auf den Ausstellungen messen zu können.
Mich will bedünken, wir hätten nun der Freiheit
ein reichlich Maass und nützten sie nach Kräften. Für
Nachwuchs ist gesorgt, wenn auch manches Original
noch dahin fahren wird „in seiner Pracht". Doch nach
dem allgemeinen Freiwerden möchte man endlich nun
Not, gerade so und nicht anders zu malen, ist gar
nicht vorhanden. „Du kannst auch anders" — und man
ist verstimmt. Hier liegt der wunde Punkt unserer
Zeit, deren Spiegel, wie zu allen Zeiten, die Kunst ist.
Dem Starken vergeben wir jedes „Verbrechen" gegen
Gesetz und Regel, der Schwäche, die sich wild gebärdet,
nicht.
Über Starke und Schwache scheint die Sonne auch
auf der Darmstädter Ausstellung, deren stärkstes Werk
doch noch Olbrichs Ausstellungsbau von 1908 ist. War
damals die Jury milde, so hatte das seine Berechtigung
darin, dass es sich um eine Landes-Ausstellung handelte.
Die heurige ist eine deutsche und die Ansicht: bei einer
615
wo es nicht nur an heilsamen Hemmungen ungezügelter
Willkür fehlt (wie die alten Innungs-Grundsätze etwa
sie übten), sondern wo thatsächlich Alles fehlt, was
zunächst eine Übereinstimmung der Wertmaassstäbe
in künstlerischen Dingen seitens einer ausschlaggebenden
gesellschaftlichen Oberschicht herbeiführen könnte. Es
herrscht über nichts eine feste Meinung; darum heisst
das drollig dumme Losungswort: „Alles ist erlaubt". Die
Künstler haben den Schaden davon, der für den Spott
nicht zu sorgen braucht. Mit dem allein zuverlässigen
wieder ein neues Binden. Graf Harry Kessler betont in
seiner gut gemeinten Vorrede zum Darmstädter Katalog:
„wie Luther muss jeder anständige Künstler von seinem
Werk bekennen können: Hier steht es, Gott helfe mir,
ich kann nicht anders." Sehr hübsch, wenn auch nicht
neu und tief gesagt; aber hier trifft der Vergleich leider
nicht das Wesen der gegenwärtigen Kunstkrisis. Es ist
nicht immer Bekennermut, der laut aus Farben und
Linien schreit. Vor manchem Bilde habe ich das pein-
liche Misstrauen gegen die Lutherseele des Urhebers:
der thut nur so, als könnte er nicht anders! Eine innere
LEOPOLD VON KALCKREUTH, DIE ANGLER
Maassstab, mit dem irgendein Kunstwerk von heute so
sicher gemessen werden kann wie eines vor hunderten von
Jahren, ob es in Kopenhagen oder in Kairo, an derThemse
oder am Arno entstand, mit diesem einfachen, sichern
Maassstabe, der nicht „alt" oder „modern", sondern gut
oder nicht gut unterscheidet, scheinen gegenwärtig
wenige Kritiker und noch weniger Käufer von Kunst-
werken auf den Ausstellungen messen zu können.
Mich will bedünken, wir hätten nun der Freiheit
ein reichlich Maass und nützten sie nach Kräften. Für
Nachwuchs ist gesorgt, wenn auch manches Original
noch dahin fahren wird „in seiner Pracht". Doch nach
dem allgemeinen Freiwerden möchte man endlich nun
Not, gerade so und nicht anders zu malen, ist gar
nicht vorhanden. „Du kannst auch anders" — und man
ist verstimmt. Hier liegt der wunde Punkt unserer
Zeit, deren Spiegel, wie zu allen Zeiten, die Kunst ist.
Dem Starken vergeben wir jedes „Verbrechen" gegen
Gesetz und Regel, der Schwäche, die sich wild gebärdet,
nicht.
Über Starke und Schwache scheint die Sonne auch
auf der Darmstädter Ausstellung, deren stärkstes Werk
doch noch Olbrichs Ausstellungsbau von 1908 ist. War
damals die Jury milde, so hatte das seine Berechtigung
darin, dass es sich um eine Landes-Ausstellung handelte.
Die heurige ist eine deutsche und die Ansicht: bei einer
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