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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 15.1917

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Heft 5
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Scheffler, Karl: San Marco: aus dem Tagebuch einer Reise nach Italien
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https://doi.org/10.11588/diglit.4744#0243

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Herrschaftswille hervor, dem man sich heute noch
beugt. Nirgend drängt sich das Individuum dreist
vor das Auge. In der Gesamtheit der Mosaiken ist
eine göttliche Roheit, das ganze Leben ist darin,
das Drohende und die Gewitterschwüle, seine Grazie
und Heiterkeit, sein ruhiger Ernst und seine wilde
Verzerrtheit. Und nirgends ist etwas Sentimentales.
In der Linienkraft, in den Linienzartheiten, in dem
mächtigen Parallelismus der Gesten und in der
gruppenhaften Formenhäufung: überall wird das
tiefere Formengefühl der Heutigen intim berührt;
ja, es gewinnen diese Mosaiken stellenweis eine
faszinierende Modernität. Die Heiligengeschichten,
Bibellegenden, Taufdarstellungen, die Schilderungen
von Christus, Maria, den Engeln und den Aposteln
oder von der Schöpfungsgeschichte werden kaum
gesehen: das Auge ist nur beschäftigt, die Mystik
der Einzelformen der Mystik des Ganzen zu ver-
binden. Es sind die erhabenen Hieroglyphen dieser
Mosaiken, was die in allen
Farben brennenden Glas-
fenster unseren gotischen
Kathedralen sind. Sie
machen den Raum un-
wirklich, nachdem sie ihn
erst geschaffen haben, sie
machen den Raum un-
endlich und zugleich fest
eingeengt. Eine roma-
nisch-lombardische, gold-
schmiedhafte Kunst hat
sich zu etwas Ungeheu-
rem ausgedehnt, weil der
Anlass, der Zweck gross

und würdig war, weil die Ruhmsucht ein höheres
Ziel noch hatte als das der weltlichen Selbst-
gerechtigkeit. Es ist gleichgültig, ob man kleine
Füllungen mit plastischem Rankenwerk betrachtet,
unscheinbare geometrische Mosaikmuster an Wand
und Fussboden, oder ob man nach Murano hinüber-
fährt und dort in der Apsisnische der Kirche S. Maria
e Donato die fürbittende Mutter Gottes in ihrem
dunkelblauen Gewände stillerhaben vor goldenem
Himmel schweben sieht, wie eine höhere Kunster-
scheinung, die aus dem Dunkel der Geschichte wie
ein Geheimnis hervortritt: immer ist es dieselbe naive
Genialität, dieselbe Empfindungsreinheit und naive
Erfindungskraft, dieselbe sachliche Phantasie und
fromme erhabene Romantik. San Marco ist ein Gipfel,
ein Äusserstes. Es repräsentiert diese Kirche einen
Kunststil, der nicht dauern konnte. Aber wenn die
dann folgende Renaissance auch historisch notwendig
gewesen ist — wer könnte das Gegenteil sagen!

so hat der Heutige
nichtsdestoweniger sein
höchstes Erlebnis gegen-
über der grossen Prunk-
einfalt der byzantinisch-
gotischenRomantik.Denn
in dieser Romantik steckt
der Keim einer neuen
Klassizität. Wenn uns
dereinst ein „neuer Stil"
geboren werden sollte,
so wird er in einemPunkte
sicher auch aus der golde-
nen Dämmerpracht von
San Marco hervorgehen.

RICHARD WINCKEL, FARBIGE STUDIE NACH EINEM HEILIGEN
ABB. 21

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