WALTER BANGERTER, VARIETESZENE
Stellung hin. Einer nach dem anderen wird der
„Ausdruckskunst" gewonnen; die bei uns immer
unsichere Überlieferung wird gewaltsam zerrissen,
und vielleicht vergehen viele Jahre, bevor aus dem
Lebenswerk Liebermanns hervorgeht, was es
folgerichtig fortsetzt. Es ist ähnlich wie vor hun-
dert Jahren, als die Nazarener ihr Programm der
Zeit aufzwangen, über Künstler wie Chodowiecki
und GottfriedSchadow hinweggingen, wissenschaft-
lich schwärmend „ewige" Kunstgesetze zu realisieren
suchten und die lebendigen Traditionen zwangen
einige Jahrzehnte lang unterirdisch weiterzufliessen.
Es scheint das Schicksal der deutschen Kunst von
einem Extrem ins andere zu fallen und einer stetigen
Entwicklung zu misstrauen.
Diese Ausstellung zeigt wieder, dass die Künst-
ler der neuen Generation im allgemeinen von seifen
des Willens, ja der Selbständigkeit denen überlegen
sind, die allzu nahe bei Lieber-
mann oder auch bei Trübner
stehen. Man kann noch weiter
gehen und sagen, dass diejüngeren
besser als ihre älteren Genossen
wissen, was Kunst eigentlich ist,
wie formale Wirkungen zustande
kommen und welches die Be-
dingungen der klassischen Bild-
form sind. Sie alle gehen ja bis
zum Urzustand des Kunstgefühls
zurück. Dieses bessere Wissen,
vielmehr diese Wissenschaft ist
aber auch schuld an einem ge-
wissen Hochmut, an einer ganz
ungerechtfertigten Verachtung
der Stufen, über die die Künstler
doch heraufgestiegen sind zu ihrer
Einsicht. Und es ist dieses theo-
retische Wissen schuld daran,
dass die deutsche Malerei, nach
einer Periode grosser Naturnähe,
in absichtsvoller Weise von der
Natur abrückt. Die nächste Folge
ist eine Verwirrung, die sich
drastisch in der Produktion
äussert. Der Gesamteindruck
dieser Ausstellung hat etwas
Barbarisches. Er ist in einer
dekorativen Weise barbarisch.
Vielleicht ist es doch etwas zu
weit, den Urzustand wieder auf-
zusuchen. Man kann sich unter-
wegs gar so leicht verirren. Sicher werden nir-
gends in Deutschland so anregende Ausstellungen
gemacht wie in den Räumen der Freien Sezession;
ebenso gewiss aber ist es, dass eine Ausstellung wie
diese in den Ländern mit gefestigterer Malkultur
und Kunstüberlieferung unmöglich wäre. Dort
würde überall mehr Folge zu spüren sein, die
Tradition würde selbst wider den Willen der
Künstler da sein. Bei uns scheint jedes Talent für
sich allein dazustehen, es schwebt wie im boden-
losen Raum der Abstraktion. Nun ist es ja freilich
mit Überlieferungen, die dem ersten Blick sichtbar
sind, selten weit her, die lebendige Überlieferung
äussert sich fast immer mittelbar. Auch sind sehr
wohl einzelne Züge, hier von Liebermann oder
Trübner, dort von Thoma oder Feuerbach nach-
zuweisen. Was aber fehlt — und dieses ist das
Bedenkliche — ist ein gemeinsamer Formenzwang,
57'
Stellung hin. Einer nach dem anderen wird der
„Ausdruckskunst" gewonnen; die bei uns immer
unsichere Überlieferung wird gewaltsam zerrissen,
und vielleicht vergehen viele Jahre, bevor aus dem
Lebenswerk Liebermanns hervorgeht, was es
folgerichtig fortsetzt. Es ist ähnlich wie vor hun-
dert Jahren, als die Nazarener ihr Programm der
Zeit aufzwangen, über Künstler wie Chodowiecki
und GottfriedSchadow hinweggingen, wissenschaft-
lich schwärmend „ewige" Kunstgesetze zu realisieren
suchten und die lebendigen Traditionen zwangen
einige Jahrzehnte lang unterirdisch weiterzufliessen.
Es scheint das Schicksal der deutschen Kunst von
einem Extrem ins andere zu fallen und einer stetigen
Entwicklung zu misstrauen.
Diese Ausstellung zeigt wieder, dass die Künst-
ler der neuen Generation im allgemeinen von seifen
des Willens, ja der Selbständigkeit denen überlegen
sind, die allzu nahe bei Lieber-
mann oder auch bei Trübner
stehen. Man kann noch weiter
gehen und sagen, dass diejüngeren
besser als ihre älteren Genossen
wissen, was Kunst eigentlich ist,
wie formale Wirkungen zustande
kommen und welches die Be-
dingungen der klassischen Bild-
form sind. Sie alle gehen ja bis
zum Urzustand des Kunstgefühls
zurück. Dieses bessere Wissen,
vielmehr diese Wissenschaft ist
aber auch schuld an einem ge-
wissen Hochmut, an einer ganz
ungerechtfertigten Verachtung
der Stufen, über die die Künstler
doch heraufgestiegen sind zu ihrer
Einsicht. Und es ist dieses theo-
retische Wissen schuld daran,
dass die deutsche Malerei, nach
einer Periode grosser Naturnähe,
in absichtsvoller Weise von der
Natur abrückt. Die nächste Folge
ist eine Verwirrung, die sich
drastisch in der Produktion
äussert. Der Gesamteindruck
dieser Ausstellung hat etwas
Barbarisches. Er ist in einer
dekorativen Weise barbarisch.
Vielleicht ist es doch etwas zu
weit, den Urzustand wieder auf-
zusuchen. Man kann sich unter-
wegs gar so leicht verirren. Sicher werden nir-
gends in Deutschland so anregende Ausstellungen
gemacht wie in den Räumen der Freien Sezession;
ebenso gewiss aber ist es, dass eine Ausstellung wie
diese in den Ländern mit gefestigterer Malkultur
und Kunstüberlieferung unmöglich wäre. Dort
würde überall mehr Folge zu spüren sein, die
Tradition würde selbst wider den Willen der
Künstler da sein. Bei uns scheint jedes Talent für
sich allein dazustehen, es schwebt wie im boden-
losen Raum der Abstraktion. Nun ist es ja freilich
mit Überlieferungen, die dem ersten Blick sichtbar
sind, selten weit her, die lebendige Überlieferung
äussert sich fast immer mittelbar. Auch sind sehr
wohl einzelne Züge, hier von Liebermann oder
Trübner, dort von Thoma oder Feuerbach nach-
zuweisen. Was aber fehlt — und dieses ist das
Bedenkliche — ist ein gemeinsamer Formenzwang,
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