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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 2
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Maier, Friedrich: Zukunft braucht Herkunft: Bildungserwartungen an das Gymnasium und die Alten Sprachen : zur Eröffnung des Kongresses des Deutschen Altphilologenverbandes in Jena
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0061

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gan; er stellt eine anthropologische Wahrheit
dar, die auch zu modernen wissenschaftlichen
Erkenntnissen nicht in Widerspruch steht. Diese
Wahrheit gilt in zwei Hinsichten, zum einen
essentiell-individuell, weil die Erfahrung von
geschichtlich-kulturellen Situationen wesentlich
den Prozeß bestimmt, der den Menschen seiner
selbst bewußt macht, ihm Sinn vermittelt und
ihn dadurch für die Zukunft aufschließt, zum
anderen existentiell-universal, weil nur die ethi-
sche Bedeutsamkeit menschlichen Handelns,
wie sie in Theorie und Praxis der Vergangenheit
einsichtig wird, den Menschen in eine Disposi-
tion bringt, daß er seine Verantwortung für die
Erhaltung der Art in der Zukunft erkennt und
mutig annimmt.
Es unterliegt keinem Zweifel: Nur im weiten
Horizont, wie er hier vor unseren Augen in
knappen Strichen gezeichnet wurde, erhalten
alle Überlegungen zur Bildung in der Zukunft
ihre tragende Bedeutung. Das Motto „Zukunft
braucht Herkunft" trifft gewiß auf das Gymna-
sium, auf die Höhere Schule als Ganzes zu. In
den Visionen von Schule jenseits der Jahrtau-
sendwende, die in Vorträgen, Symposien, Pu-
blikationen immer häufiger entworfen werden,
beherrschen die phantastischen Möglichkeiten
der Multimedia die Szene. Zugleich aber ge-
winnt, gewissermaßen komplementär dazu, das
Programm einer umfassenden, vertieften All-
gemeinbildung wieder an Bedeutung. „Bildung
und Wissen sind zu entscheidenden Standortfak-
toren geworden; eine möglichst breite Allge-
meinbildung muß das vorrangige Ziel jeder
schulischen Ausbildung sein." So zuletzt Bun-
despräsident Roman Herzog vor dem 15. Kon-
greß der Deutschen Gesellschaft für Erzie-
hungswissenschaft in Halle 1996. In solcher
Allgemeinbildung beanspruchen Elemente der
naturwissenschaftlichen und der geisteswissen-
schaftlichen Fächer einen gleichberechtigten
Rang, ja man fordert - auch hier „auf der Suche
nach neuen Harmonien" - mit Nachdruck ihre
Zusammenarbeit. Die Schlüsselprobleme der
Zukunft ließen sich, so liest man, nur angehen
mit Wissen, mit Kompetenz, mit dem Bewußt-
sein, daß das eigene Leben und das der anderen

einen Sinn hat, daß die Erde als Existenzraum
der Menschheit bewahrenswert ist, daß es dem-
nach aller intellektuellen und moralischen
Energie des Menschen bedarf, um etwa das
heute noch unlösbare Existenzproblem
schlechthin, nämlich das des Ausgleichs der
Ansprüche von Ökonomie und Ökologie, er-
folgreich anzugehen. Dem Gymnasium wächst
hier eine große pädagogische Aufgabe zu; es
muß, so signalisieren es die Vordenker der
gymnasialen Bildungstheorie und Bildungspoli-
tik, die hohe Schule der Verantwortung werden.
Vor diesem Hintergrund erhalten die Alten
Sprachen - also die Gymnasialfächer der Her-
kunft schlechthin - eine neugefestigte Position.
Wer Latein und Griechisch ablehnen wollte,
Fächer, die Sprache und Logik, jene die Selbst-
werdung des Menschen tragenden Akte an mo-
dellhaften Fällen bewußt machen und trainieren,
Fächer sodann, die das Nachdenken des Men-
schen über den Menschen, über seine Geistbe-
gabung und deren Folgen sowie die Konzentra-
tion aller Fragen auf ihre ethische Relevanz
exemplarisch vor Augen führen, Fächer weiter,
in denen Schüler lesen, wie das Verhältnis von
Wissen und Macht sofort und radikal unter der
Frage der individuellen und sozialen Verant-
wortlichkeit diskutiert wird, Fächer schließlich,
die mit mythischen, künstlerischen, philosophi-
schen, wissenschaftlichen, politischen Entwür-
fen konfrontieren, die nicht bloß auf Papyros
oder Pergament geschrieben blieben, sondern
seit den Anfängen ihre Vitalität in Politik, Kul-
tur und Geistesleben Europas dauerhaft zur
Wirkung brachten bis zum heutigen Tag, wer
also solche Fächer - „Basisfächer" oder
„Wurzelfächer" - an den Rand des Gymnasiums
drängen oder gar in seinen Keller stellen (im
Westen) oder dort belassen (im Osten) wollte,
der würde wenig bildungspolitischen Weitblick
zeigen; sein Urteil bliebe extrem vordergründig.
Er würde sich heute in Widerspruch setzen zu
den Erwartungen an die Bildung von morgen. In
seiner Ablehnung der nicht geringsten unter den
geisteswissenschaftlichen Fächern stieße er in
dasselbe Horn, wie einst Francis Bacon, der,
wie wir hörten, die „bei den Musen bleibenden"

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