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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 3
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Besprechungen
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[Rezension von: Eric M. Moormann u. Wilfried Uitterhoeve, Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik]
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[Rezension von: Joachim Latacz, Achilleus. Wandlungen eines europäischen Heldenbildes]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0159

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Details, die die spätere Überliferung bestimmt
haben, zusammenfaßt), zu Caesar 11.
Ich bin sicher: jeder, der dies Buch hat, wird es
bald zu den unentbehrlichen Bestandteilen sei-
ner Bibliothek zählen.
Latacz, Touc/uw.* AclnHeMS'. Wanr/JMfigef! Hirns'
eMrcpäisc/mf? TTeMgnMJ&y. 3tMttgart, Leipzig.'
7993. (L^ctio 3). 703 &
36,00 DM (73RV 3-679-07332-0).
Für Christa Wolfs Kassandra ist Achill ,,das
Vieh". Latacz will demgegenüber zeigen, daß
der Achilleus der „Ilias" der Entwurf eines ari-
stokratischen Ideals ist: einer, der das ganze
Regelwerk aristokratischen Verhaltens be-
herrscht, im Bösen wie im Guten - nur „in al-
lem noch um ein Stückchen besser als die ande-
ren", um jenes kleine Stückchen, das sein Vater
Peleus von ihm erwartete, als er ihm das Ziel
vorgab: atev aptcriebetv xat ujtetQOXOv
eppevat ctLktov. „Achill ist freundlich und ge-
recht, wo man es sein soll, zomig und auch
aggressiv, wo es geboten ist, stark und mitleid-
los, wo Mitleid Selbstmord wäre, wahrheitslie-
bend und ohne Falsch, wo andere Listen brau-
chen, ein treuer Freund, ein Verehrer der über-
kommenen Götter, ein Mann der Ehrfurcht vor
dem Alter, ein schöner Mann und - selbstver-
ständlich! - auch ein großer Kämpfer." (S. 64 f.)
Doch erhebt sich am Horizont bereits ein ande-
rer Lebensentwurf, getragen von neuen sozialen
Schichten, Händlern, Schiffahrtsunternehmern,
Massenproduzenten, ein Lebensentwurf, der
vom Pragmatismus gezeichnet ist, der sich ma-
teriellen Lockungen nicht verschließt, dessen
Ideal wenig später in Odysseus gestaltet wird.
Odysseus geht Umwege, verkleidet und verstellt
sich - der Achill m Mädchenkleidern (die ihm
im übrigen Thetis gegeben hat) ist nicht derje-
nige der Ilias - , lügt und betrügt notfalls auch,
wenn es nur seinen Zielen dient: Der Zweck
heiligt ihm die Mittel. So ist die Ilias gerade
kein „Lied von Ilion", sie will nicht Handlungs-
und Geschehensabläufe zeigen, sondern einen
Charakter: „wie ein ideal gefaßter junger Ange-
höriger der Oberschicht, des Adels, durch viel-
fältige Erfahrungen im Rahmen einer schichtty-

pischen (freilich in ideale Dimensionen erhobe-
nen) Bewährungsprobe reift und wächst" (S.
32). Die Ilias ist eigentlich eine Achilleis. Und
die Gestalt des Achilleus ist ein Appell, in den
Zeiten der beginnenden Kolonisation, des Um-
bruchs und der Umwertung von Werten an
überkommenen Idealen festzuhalten. Das be-
deutet aber auch, und dies deutet Latacz kaum
an (vgl. z. B. Anm. 72): Die Ilias ist eine ab-
sichtsvolle Dichtung, aus einem individuellen
Gestaltungswillen heraus entstanden, und keine
Repräsentantin einer kollektiven Tradition, wie
sie es wohl als Stück reiner „ora/wäre.
Die Wandlungen dieses Heldenbildes, die der
Untertitel verspricht, verfolgt Latacz nur kurz
und ausschnittweise in wenigen einleitenden
Abschnitten. War Sophokles im „Philoktet" mit
der Gestalt des Neoptolemos der homerischen
„Idee Achilleus" noch recht nahgekommen, so
setzten Spätere aus ihrer historisch bedingten
Sichtweise heraus - Latacz arbeitet sie stets
knapp heraus - ganz andere Akzente: Wer seine
Herkunft von Trojanern ableitete, und das war
nicht nur das iulische Geschlecht, sondern, als
ihm entsprossen, auch der mittelalterliche Adel
in Europa, mußte den Griechen Achilleus ab-
werten. Daher ist Achilleus für Vergil
„mmih's", für Benoit de Sainte-Maure gar la-
sterhaft und homosexuell. Die Elegiker der au-
gusteischen Zeit dagegen münzten den verhaß-
ten Krieg zum Liebesdienst um und gestalteten
konsequent den größten Kriegs- zum größten
Liebeshelden. Liebender ist Achilleus auch
später: in Goethes Achilleis-Fragment ergreift
ihn die heftige Leidenschaft zur troischen Kö-
nigstochter Polyxena. Gleichzeitig macht es
Achills Wissen um seinen Tod zum Thema, und
so ist es weniger ein Heldenlied als ein Requi-
em. Kleists Achill schließlich wird schwach vor
Penthesilea.
Und heute? „Das Edle wird nicht mehr ge-
glaubt, weil es nicht mehr gekannt wird." (S.
12). Oder, um es mit anderen Worten als denje-
nigen von Latacz zu sagen: Das Odysseus-
Prinzip hat gesiegt. Achilleus, einst ein
ernstgemeintes Ideal, ist nur noch „Achill, das
Vieh". Latacz scheint diesem Ideal nachzutrau-

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