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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Liebchen, Wilfried: "Nieder mit Goethe?": Kulturstadt Weimar - ein Angebot : kulturkritische Betrachtungen eines Stadtbesuchers
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„Nieder mit Goethe?"
Kuiturstadt Weimar - ein Angebot
Kulturkritische Betrachtungen eines Stadtbesu-
chers*
Vom Hauptbahnhof kommend, wenige Minuten
leicht abwärts schlendernd, vorbei an architek-
tonisch interessanten Bauten, erreicht man bald
das Zentrum der Weimarer Klassik. Hier erfreu-
en sogleich die abwechslungsreich gestalteten
Häuser, Schlösser und Wohnhaus-Schlößchen.
Es geht viel Menschenfreundliches von ihnen
aus. Straßen wechseln mit schönen Plätzen,
lockern das Stadtbild auf und vermitteln ein
Gefühl von Freizügigkeit, ohne weitläufig oder
protzig zu wirken. Nur das Pflaster befindet sich
in bedenklichem Zustande, sauber zwar, aber
die Absätze wackeln stets über zahllose Stein-
vertiefungen, daß ma.n achtgeben muß, sich
nicht den Fuß zu verknacksen.
Bevor man jedoch vom Bahnhof her zur Alt-
stadt hin das Kulturzentrum erreicht, führt der
Weg über zwei Plätze, die schlecht zu umgehen
sind, und so wird man gleich konfrontiert mit
der Geschichte jüngster menschlicher Irrsale.
Das ist, der Zeitfolge nach, einmal der Platz der
geschmacklosen Speerarchitektur in Nach-
ahmung der einstigen Berliner Reichskanzlei
Hitlers (nur ein Stockwerk niedriger) in schwül-
stiger Hufeisenanordnung, zum andern der
Emst-Thälmann-Platz mit Thälmann-Statue aus
Bronze in Größe derer von Goethe und Schiller,
nur nicht auf hohem Sockel. Der Kommunist,
vor einer einfältigen Kalksteinmauer plaziert,
sollte wohl volksnah wirken.
Weimar war ja nicht nur die Stadt der literari-
schen Klassiker, es war auch die Stadt der soge-
nannten „goldenen Jahre", die Stadt der Weima-
rer Republik!
In einer solchen geschichtsträchtigen Stadt, in
der sich schon so viel Bewegendes ereignet hat,
dessen Zeugnisse sich noch immer aufspüren
und anschauen lassen und die politische wie
kulturelle Geschichte Weimars eindrucksvoll
dokumentieren, in einer solchen Stadt durften
die Symbole der abscheulichsten Systeme deut-
scher Geschichte nicht fehlen. Dorthin wollten

doch wenigstens auch die nationalsozialisti-
schen und kommunistischen Emporkömmlinge
ihre architektonische Duftmarke gesetzt haben.
Merkwürdig nur, daß es trotz dieser Ge-
schmacklosigkeiten keiner Mühe bedarf, solche
ideologischen Baumonster im Grau ihres brau-
nen oder roten Miefs als „ferner liefen" zu be-
trachten. Sie befinden sich auch nicht im alten
Stadtzentrum, stören nicht einmal, werten höch-
stens die „guten" alten Zeiten auf, gegen welche
einstmals die Heils- und Paradieskolonnen wü-
tend angetreten waren, und stehen heute ganz
im kümmerlichen Schatten einer bewunde-
rungswürdigen, geistig bewegten und kulturell
beispielhaften Vergangenheit.
Läßt man sich gedanklich und phantasievoll auf
die bessere Geschichte Weimars ein, klammert
man die sozialen Verhältnisse der Gegenwart
aus, läßt man sich tragen von den guten Gei-
stern, nimmt man ihre architektonischen Ge-
staltungen wahr, so wird die noch überall zu
spürende Anwesenheit der Großen zu einer be-
glückenden, aber auch sehr nachdenklich stim-
menden Begegnung.
Eine gedankliche Kommunikation kommt auf
mit Goethe, Eckermann, Schiller, Wieland,
Herder, Joh. Sebastian Bach, Martin Luther,
Franz Liszt, Nietzsche, Kotzebue ... je nach
Assoziation, die ein Haus, eine Straße, ein Platz,
ein Park oder eine Kirche gerade in uns auslöst.
Wenn auch Widersprüche erkennbar werden,
die zum Naserümpfen reizen, der Gang durch
die Kulturgeschichte wird zum Erlebnis und
wirkt klärend, dies durchaus nicht immer zu
Gunsten der Vergötterten. Aber beim Anblick
ihrer Wirkungsstätten, fühlt man sich stets anre-
gend, spannend und erkenntnisreich unterhalten.
Allein die Kirche St. Peter und Paul
ist atemberaubend, wenn man bedenkt, welche
Geister dort gewirkt oder „nur" zu ihren Besu-
chern gezählt haben. loh. Seb. Bach spielte dort
die Orgel, die noch erhalten ist und bald erneu-
ert werden soll. Er ließ dort seine Söhne Wil-
helm Friedemann und Carl Philipp Emanuel
taufen, wobei Telemann Taufpate war.

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