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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Aktuelle Themen
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Klowski, Joachim: Überlegungen zu den von den neuen Sozialisationsbedingungen geprägten Schülern und dem Lateinunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0122

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Überlegungen zu den von den neuen Sozialisationsbedingungen
geprägten Schülern und dem Lateinunterricht

Der Anstoß zur Diskussion um den von den
neuen Sozialisationsbedingungen geprägten
Schüler - vereinfacht ausgedrückt: um den neu-
en Schüler - ging von Horst Hensel aus. Er ist
Gesamtschullehrer in Nordrhein-Westfalen. Als
er nach mehreren Jahren Unterricht in der Se-
kundarstufe 1 wieder eine 5. Klasse übernahm,
war er überrascht von den veränderten Schülern.
Diese Veränderung erschien ihm so stark, daß er
meinte, Zeuge eines Kulturbruches zu sein.
Seine Beobachtungen faßte er im Herbst 1992
in einem internen Papier für eine Diskussion an
seiner Schule zusammen. Das Papier geriet je-
doch im Frühjahr 1993 an die Öffentlichkeit
und wirbelte, wie man so sagt, viel Staub auf.
Eine kurze dpa-Meldung über Hensels Beob-
achtungen fand nämlich allenthalben in
Deutschland großes Interesse, auch bei mir.
Seine Thesen sprachen mich deshalb an, weil
meine eigenen Erfahrungen an Hamburger
Schulen in vielfacher Weise mit den seinen
übereinstimmten.
Inzwischen ist Hensels Diskussionspapier in
Buchform erschienen. Es trägt den Titel „Die
neuen Kinder und die Erosion der alten Schule.
Eine pädagogische Streitschrift"'.
Da diese Streitschrift bereits so etwas wie ein
Klassiker geworden ist, will ich einige Passagen
daraus zitieren, wohl wissend, daß wir es an den
Gymnasien und speziell in den Lateinklassen
nicht mit wirklich denselben Schülern zu tun
haben, allerdings wohl doch mit recht ähnli-
chen.
Als Hensel Anfang der neunziger Jahre wieder
in 5. Klassen unterrichtete, fiel ihm auf, „daß
die Kinder nunmehr
* seltener und weniger bereit und fähig sind,
sich zu bilden, also dauerhaft und fest dieje-
nigen Kenntnisse und kognitiven Fähigkeiten

zu erwerben, die in den Zielen der Schule
formuliert sind, und derer der Arbeitsprozeß
bedarf,
* seltener und weniger bereit und fähig sind,
zu arbeiten, d. h. sich auf eine Tätigkeitsform
einzulassen, die sich der spontanen Bewälti-
gung sperrt, die also Zeit und Kraft kostet
und Aufmerksamkeit verlangt,
* seltener und weniger bereit und fähig sind,
sich sozial zu verhalten, also Regeln des Zu-
sammenlebens einzuhalten, sich in einen an-
deren Menschen hineinzuversetzen, auf ihn
Rücksicht zu nehmen, Gemeinschaft zu pfle-
gen und zusammenzuarbeiten - im Gegenteil:
In der Regel geht es darum, sich selbst ag-
gressiv durchzusetzen. ...
Sowohl Eltern als auch Kinder begreifen immer
seltener, daß Lernen eine Tätigkeit ist, und daß
jede Tätigkeit Mühe kostet und mit der Veraus-
gabung von Arbeitskraft einhergehen muß. Die
Einstellung gewinnt Raum, Lernerfolge müßten
sich allein durch Anwesenheit von Kindern im .
Unterricht von selbst ergeben. ...
Eine große Anzahl der Kinder verhält sich so,
als sei ihr Zentralnervensystem an das Vor-
abendprogramm des Fernsehens angeschlossen:
Ihr schulisches Verhalten ist ein Reflex auf
schnelle Schnitte, Kliff-Hänger, Zapping usw.
Sie sind nervös, können sich nicht konzentrie-
ren, bedürfen der immer neuen Reize, Stimuli
und Sensationen, können nicht mit sich allein
sein, behalten nichts, strengen sich nicht an -
kurz: das Konstante ihrer Persönlichkeit ist die
Flüchtigkeit; ihr Verhalten ist flüchtig wie die
59 Frames pro Minute Fernsehfilm" (S. 15ff.).
Ausgehend von seinen Beobachtungen be-
schreibt Hensel das ihm begegnende neue Kind
zusammenfassend wie folgt: „Es ist häufiger ein
Junge als ein Mädchen. Die Eltern des Kindes

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