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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 3
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Walther, Helmut G.: Latein für Universitätsstudien: Ansprache des Dekans der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Certamen Thuringiae
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0138

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sozial abqualifizierte, gegen ihre Urheber zu
wenden, indem er erklärte, es sei besser, von
den Grammatikern getadelt als von den Völkern
nicht verstanden zu werden: gst rgpre-
AgnJanf nos' gramnMh'ci non inteNognnf
po^M/i".
Warum erzähle ich Ihnen dies alles? Natürlich
nicht, um Ihnen Gregor d. Gr. und Augustin als
Vorbilder hinzustellen und um sie aufzufordem,
möglichst kräftig gegen mor/; und cas'MS' der
lateinischen Grammatik zu verstoßen und sich
dabei auch noch mit den genannten Kirchenvä-
tern zu rechtfertigen. Ich wollte Ihnen nur deut-
lich machen, daß es kein leeres Gerede ist, wenn
vom Lateinischen als einer der wichtigsten kul-
turellen Wurzeln Europas die Rede ist, und wie
schwer, ja unmöglich es schon dem beginnen-
den Mittelalter trotz aller guter Vorsätze war,
sich vom Lateinischen als Bildungsgut zu be-
freien. Die Unmöglichkeit trat schon im Mittel-
alter zutage, so daß in einer Reihe von Renais-
sancebemühungen seit dem ausgehenden 8. Jh.
sich Herrscher und Gebildete als Protagonisten
des Kulturprozesses darum bemühten, dem Bil-
dungsniveau der Antike wieder möglichst nahe
zu kommen und dabei die heidnischen Autoren
als unerreichbare literarische Vorbilder akzep-
tierten.
Einer der bedeutendsten Intellektuellen des 12.
Jhs., der als Leiter der Domschule von Chartres
tätige Bernhard, glaubte das bestmögliche Ver-
hältnis seiner Gegenwart zur Antike nicht an-
ders als mit dem Bild von Zwergen auf den
Schultern von Riesen erfassen zu können. Zwar
kann der Zwerg aufgrund seiner größeren Au-
genhöhe weiter sehen als der Riese; doch ist das
nicht sein Verdienst: denn im direkten Gestalt-
vergleich mit dem antiken Riesen bleibt die
Gegenwart ein Zwerg. Er verdankt seine Weit-
sicht einzig der Tatsache, daß die christliche
Wahrheit als die später in die Welt gekommene
historisch auf der heidnischen Kultur aufbauen
kann.
Ein solch schönes Bild, das in der Wissen-
schaftsgeschichte deshalb immer wieder, u. a.
vom englischen Physiker Isaac Newton, aufge-
griffen wurde, sollte vom Dekan einer Philoso-

phischen Fakultät nun nicht durch weiteres Re-
den profanisiert werden.
Dennoch möchte ich gerade aus Anlaß der heu-
tigen Schlußrunde des cgrtamg?! mir dieses Bild
zu eigen machen und ganz nüchtern an die Be-
deutung des Lateins für das Studium der in die-
ser Fakultät vertretenen Fächer erinnern. Es ist
kein Verharren auf antiquierten humanistischen
Konzepten, wenn ich die Wahl des Lateinischen
im Gymnasium in Hinblick auf ein späteres
Studium, in welcher Pächerkombination es auch
sei, empfehle. Die durch und durch lateinisch
geprägte Wissenschaftstradition Europas macht
nicht nur das Lateinische für das Studium auch
der neusprachlichen Philologien zur selbstver-
ständlichen Voraussetzung; dies gilt auch für
alle anderen Wissenschaften, die sich aus der
Sprachlogik des Lateinischen als der gemeinsa-
men gesamteuropäischen Wissenschaftssprache
bis ins 18. Jh. entwickelten. Wegen dieser
Schlüsselfunktion des Lateinischen in jeder
historischen Selbstvergewisserung der Gegen-
wart sind Lateinkenntnisse Studienvorausset-
zung für fast alle Lehramts- und Magisterstudi-
umsfächer.
Und ich wiederhole ausdrücklich, um potenti-
ellen Argumenten über fehlende Zukunftsbezo-
genheit und auch angeblicher fehlender Offen-
heit für neuere Entwicklungen von Seiten der
Universitäten gegenüber den Bedürfnissen der
Gesellschaft am Ende des 2. Jahrtausends ent-
gegenzutreten: Lateinkenntnisse werden an der
Universität Jena wie anderswo weder aus blo-
ßem Bildungsdünkel oder unreflektiertem Tra-
ditionalismus gefordert, Lateinkenntnisse sind
im Studium in erster Linie ein praktisches
Handwerkszeug, das jeden Tag in Gebrauch ist.
Sie stellen also keinen ungenutzten Hort ge-
schichtlicher Allgemeinbildung dar. Daß La-
teinkenntnisse innerhalb des einzigartigen histo-
rischen Kollektivgedächtnisses, das dem
menschlichen Handeln der Nachgeborenen die
Erfahrungen vergangener Gruppen und Ge-
meinschaften als Orientierungsrahmen zuführt,
zudem diese Funktion besitzt, soll freilich nicht
verschwiegen sein.

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