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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Veit, Georg: Das Problem der lateinischen Lehrbuchtexte
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0016

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chend auf die dahinterstehende oder heranzuho-
iende Wirklichkeit hin, verschafft einen fal-
schen Eindruck, legt einen unzulässigen Ver-
gleich nahe, erfüllt nicht seine Funktion als
Modell, sondern die von Abklatsch. Herkules,
reduziert auf die Nacherzählung seiner Taten,
ohne daß auf die Bedeutsamkeit dieser Figur für
bestimmte Gruppen der antiken Gesellschaft
(Händler, Soldaten, Philosophen, Komödien-
dichter), ohne daß auf den Kontext hingewiesen
wird, in welchem über ihn die Rede ging, wirkt
wie Abklatsch. Die Nacherzählung römischer
Sagenerzählungen, ohne daß sie mit ihrer politi-
schen, didaktischen Funktion verbunden wer-
den, einfach als Geschichten für sich hingestellt,
ist Abklatsch. Die quasi historische Darstellung
von Sklaven in ihrem oppositionellen Witz,
ohne daß offengelegt wird, daß sie der antiken
Komödie entlehnt ist, ist als Abklatsch zu ver-
werfen.
c) Zu den von den nordrhein-westfälischen
Richtlinien formulierten Grundqualitäten eines
Fehrbuchtextes gehören ebenfalls die Kategori-
en Fremdheit und historische
Distanz. Das ist zentral! Hier, in der histo-
rischen, also mittelbaren Kommunikation, nicht
im formalbildenden Wert der lateinischen Spra-
che findet sich m. E. die Quintessenz unseres
Faches.
Unter der Grundqualität historische Distanz ist
zu verstehen, daß man sich der unterschiedli-
chen Voraussetzungen der Textproduktion und
-rezeption in der Antike und bei uns bewußt
wird, daß man die Febens- und Geisteswelt der
historisch gewordenen Kultur begreift, daß man
mitzusehen beginnt, warum ein Text oder Stoff
den Weg in ein Fehrbuch des 20. Jahrhunderts
gefunden hat und wie er nunmehr konsumiert
wird. Das fordert, den eigenen Standpunkt zu
verlassen und eine hermeneutische Perspekti-
venübung durchzuführen: Weshalb erzählte man
sich damals davon, wie erschien die Sache vor
vielen Jahren, wie erscheint sie mir heute?
Selbstirritation wird verlangt, Distanz zur eige-
nen Person, Selbstbescheidung. Wir sollten
dabei immer wissen, daß wir nach dem vergan-

genen Anderen nicht seinetwegen, sondern
unsertwegen fragen.
Helfen unsere Fehrbücher dabei, üben sie diese
Haltung methodisch ein oder bleiben sie hier
stumm? Excwp/; canya: Orpheus wird uns tra-
ditionell in Fehrbüchern überliefert als zauber-
hafter Sänger und tragischer Hadesgänger. Er-
schien er den Menschen der Antike auch so,
schlugen nicht die mystischen, irrationalen As-
soziationen bei ihnen weit mehr aus? Warum
haben wir das ausgeblendet, was sagt das über
uns und den Weg unserer Kultur?
Die Kategorie Fremdheit hat nichts mit ,sfg/n-
zu tun, nichts mit Exotik, auch
nichts mit dem „ccc?, ^naw Rcwa?:;'/",
sondern mit uns und unserem Alltagsdenken
und -leben, das reflektiert werden soll, indem
wir die antiken Texte und Stoffe intensiv erar-
beiten und uns durch den Kopf gehen lassen.
Selbstgewißheiten produzieren sollen sie nicht.
Helfen die Fehrbuchtexte dazu?
d) Wir wollen noch eine weitere Grundqualität
von Kunsttexten benennen, die nicht in den
Richtlinien NRW auftaucht, dennoch aber von
erheblicher Bedeutung ist. Ich möchte diese als
die Grundqualität der szenischen
Darbietungsform bezeichnen. Der
Grundcharakter eines Textes soll also szenisch
sein. d. h. mehr anschaulich schildernd als
summarisch referierend, mehr dialogisch als
narrativ, verdichtend, nicht additiv, zuspitzend,
nicht auffächernd.
Warum? Zunächst: Die De- und Rekodierung
im Fateinischen bedarf kognitiver Anstrengun-
gen, die den Text in der Regel sehr stark zer-
gliedern, ihn in Satzteile, Wortblöcke, Wörter
und gar Silben sezieren. Wir reden von mikro-
skopischer Methode. Diesen kognitiven Über-
hängen müssen sehr dichte Bilder und Szenen
entgegengesetzt werden, um einen Text den-
noch lebendig, also virulent und kommunikativ
werden zu lassen - ja. um ihn als kohärentes
Gewebe während der Übersetzungsbemühungen
überhaupt zu erhalten.

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