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Burkhardt, Julia; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Reichsversammlungen im Spätmittelalter: politische Willensbildung in Polen, Ungarn und Deutschland — Mittelalter-Forschungen, Band 37: Ostfildern, 2011

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https://doi.org/10.11588/diglit.34753#0012

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A. Einführung

Als am 19. Mai 2010 die russische Staatsduma in Moskau zusammentrat, um
in erster Lesung über einen Entwurf zur Änderung der gesetzlich festgelegten
Promille-Grenze für die Teilnahme am Straßenverkehr zu befinden, ereig-
nete sich etwas Bemerkenswertes. Mit 449 von insgesamt 450 Abgeordneten
stimmten rund 99,8% der Volksvertreter der vorgeschlagenen Änderung zu.
Noch beachtlicher war freilich die Tatsache, dass bei der Abstimmung lediglich
88 Abgeordnete anwesend waren. Uber die Frage, wie unter diesen persona-
len Bedingungen eine derart fulminante Mehrheit zustande kommen konn-
te, gaben wenig später die Aufnahmen eines Fernsehsenders Aufschluss. Sie
zeigen, dass die anwesenden Abgeordneten in den für die Stimmabgabe zur
Verfügung stehenden 20 Sekunden durch die leeren Sitzreihen des Parlaments
hasteten, um auch an den verwaisten Sitzplätzen die Knöpfe für die elektro-
nische Abstimmung zu betätigend Nach der Veröffentlichung des Videobelegs
im Internet riefen die Bilder der bizarr anmutenden Abstimmung sowohl in
Russland als auch in der internationalen Presse ein breites Echo an Reaktionen
hervor. Dabei wurde in Russland neben spöttischen Witzen über die »aktive
Gesetzgebun^stätigkeit« vor allem die Kritik an der Arbeitsweise des Parla-
ments lauter/ Bereits im April hatte Präsident Medvedev die bei zahlreichen
russischen Parlamentariern übliche Absenz von den Sitzungen der Staatsduma
als »Beleidigung der Wähler« verurteilt und eine Gesetzgebung zur Sanktio-
nierung dieser Umstände gefordert/ Während schon frühere Sitzungen von
einem »sorglosen Verhalten der Abgeordneten« (Mommsen) geprägt gewesen
waren, manifest etwa in der Wiederholung von Abstimmungen oder eben der
Stimmabgabe für abwesende Abgeordnete/ provozierte die im Mai dokumen-
tierte Episode in Politik und Gesellschaft eine intensive Auseinandersetzung
mit den Regeln und Verfahren der Willensbildung in der Staatsduma. Dabei
wurde um das Verhältnis zwischen der bisherigen parlamentarischen Praxis
und der gesetzlichen Ordnung des AbstimmungsVerfahrens gerungen. So ist
in der Geschäftsordnung der Staatsduma festgelegt, dass die Versammlung
nur beschlussfähig ist, wenn sie »von der Mehrheit der Abgeordneten besucht

1 Vgl. dazu den Bericht der Fernsehjournalisten des Senders Ren-TV TpyuiHMH/ EBa,OKiiMOB/
Cya,eeu, 88 a,enyTaTOB. S. außerdem MALPAs, Video; BiDDER, Die Knöpchendrücker; MAKARO-
vA, Shirkers & slackers sowie BRATERSKY, Absent Lawmakers. Das Video wurde im Internet-
portal youtube veröffentlicht: http://www.youtube.com/watch?v=MrBqW5n-rGI.
2 »Natürlich haben wir vermutet, dass unsere Volksvertreter nicht den ganzen Tag in der Staats-
duma sitzen, aber sehen Sie: 88 von 450 Abgeordnete, das ist doch ein bisschen zu viel« urteilte
beispielsweise Maksim Volodin in der Tageszeitung »Komsomolskaja Pravda«. S. Boaoa,iiH,
/jenyTaT. Für einen Überblick über die Stellungnahmen einzelner Politiker und Journa-
listen vgl. BiDDER, Die Knöpchendrücker; MAKAROVA, Shirkers & slackers sowie TpyuiHMH/
EB40KUMOB/ Cya.eeu, 88 a,enyTaTOB.
3 Vgl. Medvedev proposes, RIA Novosti am 29. Juni 2010.
4 MoMMSEN, Das politische System Rußlands, S. 386. Mommsen zufolge ist darauf das recht
geringe Ansehen der Duma in der Öffentlichkeit zurückzuführen. Ebd., S. 380.
 
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