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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Drittes Heft
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Schreyer, Lothar: Schreiberei über Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0049

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halb seiner Vorstellungswelt liegt, hält
für verrückt und, wenn er es entschuldigen
will, für aussergewöhnlich oder märe en
haft. Gemäss seines Denkens wen e er
die Logik seiner Erfahrungssätze aut das
Bild an und vergisst, dass seine Logi e en
so brüchig ist wie seine Erfahrung. -
konstruiert unmögliche Gedanken aus en
Titeln einzelner Bilder. Er glau , wen
er den Titel lesen kann, nicht nur z
wissen, was sich der Künstler ge ac a ,
als er das Bild malte, sondern auch,
er habe malen wollen. Dieser se r v
breiteten Dummheit folgt dann gern
Frechheit, der Künstler habe gar nie
malt, was er malen wollte. So u r
Zerdenken des Bildes immer weiter tor
von dem Kunsterlebnis, das sich nur urc
die Hingabe an das Werk erschliesst.
Die Hingabe an das Werk ist ^eine
fühlsduselei. Viele Menschen glauben na
lieh, der Gefahr des Zerdenken zu entgehen
wenn sie das Bild zerfühlen. Sie nenne
es „Einfühlen“. Es gibt eine ganze Wisse -
schaft hierfür, die Aesthetik. Es gi a
heute noch Aesthetiker, die glau en,
ihre Lustgefühle und Unlustgefühle mi
Erlebnis des Kunstwerkes etwas zu un
haben. Die Unklarheit wissenschaftlicher
Köpfe wird durch eine ebenso grosse er
worrenheit der Gefühlswelt der Aesthe 1 er
ergänzt. Sie glauben, sich dem Kunstwerk
hinzugeben, wenn sie sich in das Gewirr
ihrer Gefühle hineinreden. Wer jema s
eine dieser Kunstbetrachtungen gelesen a ,
muss glauben, dass er die Ausbrüche eines
Menschen gelesen hat, der gern irr
sinnig sein möchte. Die Welt der uns
aber hat eine Klarheit, von der nur ie
Mathematik eine Vorstellung geben ^nn*
Weder Phantasie noch Phantasterei fuhren
zu ihr. Romantische Berauschungen un
ein Ausleben der Triebe verschliessen en
Weg zur Kunst. Das Kunstwerk hält strengs e
Ordnung des Geistes. Erst die Überwindung
der Körpertriebe offenbart diese Ordnung.
Solange wir ethisch oder gar moralisch be-
stimmt das Kunstwerk betrachten, ist es
verschlossen. Das tiefste Mitleid mit dem
vermeintlich dar gestellten leidenden Leben
macht das Kunsterlebnis ebenso unmöglich
wie der Ekel vor der vermeintlich darge-
stellten Unzucht. Es ist ein Irrtum, dass
die Kunst Gefühle darstelle. Das Kunst-

werk löst Gefühle aus bei denen, die keine
Kunst haben. Je mehr Gefühle es auslöst,
desto mannigfaltiger ist die Gefühlswelt des
Betrachters. Die Gefühle des Betrachters
zeigen sein gefühlsmässiges Verhältnis zum
Bild an. Vom Bild selbst geben sie nichts.
Die Relativität ist keine Erkenntnis. Wer
das Kunstwerk erkennt, hat die Kunst.
Manche Menschen suchen den Schlüssel
zur Kunst in der Kenntnis des Handwerks.
Für die meisten Betrachter ist die Kennt-
nis des Handwerks eine theoretische. Da-
her überschätzen sie das Handwerk und
unterschätzen es auch. Sie unterschätzen
es; denn sie wissen nicht, dass es im Hand-
werk Begrenzungen für die Gestaltung des
Werkes nicht gibt. Sie überschätzen das
Handwerk: denn sie glauben, dass das
Geistwerk in irgendeiner Abhängigkeit vom
Handwerk stände. Sie wissen nur eines:
dass sie Fachleute sind. Diese Fachleute
sind entweder begeistert von dem Hand-
werk eines Künstlers oder machen es ver-
ächtlich. Sie wollen es verächtlich machen,
wenn sie sagen, dass die Kinder bessere
Bilder malen als die Expressionisten. Sie
glauben nämlich, dass das Kind das Hand-
werk nicht versteht, weil es das Handwerk
nicht gelernt hat. Das Kind aber, das
Bilder zeichnet und malt, hat das Hand-
werk, und die Fachleute wenden Jahre
ihres Lebens an, damit das Kind die Gabe
wieder verliere. Sie wissen nicht, dass
jedem Menschen die Gabe <jer Kunst und
damit auch die Gabe der handwerklichen
Ausführung gegeben ist, es aber jedem
Menschen überlassen ist, diese Gabe zu
pflegen oder zu verkümmern. Darum ist
ihnen Kinderkunst ebenso unheimlich wie
Volkskunst. Wer Kinderkunst und Volks-
kunst erkennt, muss auch erkennen, dass der
sogenannte Künstlerberuf die Erscheinung
einer kunstlosen Zeit ist. Die Fachleute
sehen das Handwerk, aber nicht das Geist-
werk. Sie sehen nur die Tat-Sache, nicht
aber die Ur-Sache und sind daher fern von
der Erkenntnis der Kunst.
Wer uns fragt, wie er das Kunstwerk er-
kennen könne, dem müssen wir die Ant-
wort weigern. Wer einen anderen Menschen
fragt, wie er leben soll, wird keine Ant-
wort bekommen, die ihm hilft. In jedes
Menschen Innerstes ist seine Hilfe gelegt.
Die Menschen verlieren sich, weil sie ihr

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