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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Achtes Heft
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Déry, Tibor: Er ist mager und wird nie sterben
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Wauer, William: Ueber die Möglichkeit einer neuen Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0147

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mit elektrischen Tafeln. Aber niemand
kümmerte sich um ihn. Die Gummizellen
blieben leer und in den Ateliers maschierten
Spinnen in breiten Reihen. Er stellte sich
auf die Zinne des Hauses und sagte: Ich
bin der Wahre. Aber die Menschen lachten
und zeigten mit den Fingern auf ihn. Er
fiel von der Zinne herunter.
Nachts ging er zum Fotografen, zog ein
Messer und stach es ihm in die Brust Der
Vogel kam vom Gipfel herab und zog mit
dem Schnabel das Messer heraus. Die
Wunde heilte sofort zu. Der Fotograf sagte:
— Warum beisst du mir nicht lieber die
Kehle durch? —
Der Vogel zog fort, der Fotograf ebenfalls.
Auf der Landstrasse war es sehr heiss, er
lief barfuss und stopfte sich die Taschen
mit kaltem Wasser voll. Aber das Wasser
floss immer heraus. Auf seinen Schultern
liess sich eine Amselfamilie nieder, vermehrte
sich unmässig und lärmte seine Träume
mit dem Goldhaar der geraubten Jungfrau
voll.
Am Rande der Landstrasse stand eine
Schmiede. Der Schmied lief heraus und
schloss sich dem Fotografen an. Der Blase-
balg blieb ihm auf der Schulter, aber das
war von Nutzen, denn er jagte damit die
Zudringlichen fort. Trotzdem umgab sie
bald eine stetig wachsende Menge und der
Zug schlängelte sich lautlos durch die Nacht,
zwischen den erleuchteten Meilensteinen.
Die Frauen standen auf den Bergesgipfeln
und streckten jammernd die Arme nach
den Flüchtlingen aus. Der Schmied sagte:
— Zeige mir im Geheimen deine Erinne-
rungen! —
Der Fotograf öffnete sein Herz, in roten
Samt gebettet lag dort das Kabinettbild
der Jungfrau. Der Schmied blies mit dem
Blasebalg.
Aber die Uebrigen murrten, schrien und
verlangten unzufrieden das Bild zu sehen.
Der Fotograf zeigte esjedem; sie verstummten.
Einige nahmen einen blinden Jüngling beim
Arm und erzählten ihm, was sie gesehen.
Dieser schrie: Jumalai.
Dem Fotograf hing das Haar in die Stirne,
an seinen Sohlen waren zwei grosse Wunden
und doch flog er rascher, als die, die ihm
zu Pferd folgten. Diese ermüdeten und
sagten: Wir laufen umsonst, der Vogel ist
schon gestorben.

Sie fragten die Menschen: habt ihr den
Vogel gesehen?
Die Menschen antworteten: Nachts schlafen
wir und am Tage arbeiten wir.
Diese Menschen gruben eine grosse Grube
und füllten sie mit den Abfällen von Tieren.
Morgens legten sie sich vor die Grube und
warteten darauf, dass die Silbereier der
Schmetterlinge aufbrechen. Abends gruben
sie noch eine Grube
Der Fotograf lief neben dem Geleise und
der blinde Jüngling rief: Jumalai. Die, die
zu Pferde sassen, sagten: Der Vogel ist
gestorben, wir gehen nachhause. Ein Mann
schwenkte vom Weg ab, öffnete ein Haus,
sagte: Ich bin daheim. Er trank Milch
und streichelte seine Kinder. Ein Anderer
sagte: Der Vogel hat mir gestern abend das
Bild geschenkt. Ich gehe nachhause. —
Doch diesen Lügner schlugen sie tot.
Als Letzter ging der Schmied weg. Er warf
den Blasebalg in die hohe Saat, riss sich
das weisse Haar aus und floh in den Wald.
Der blinde Jüngling klammerte sich an den
Rock des Fotografen und lief ihm schreiend
nach. Doch er war schwach und starb bald.
Man begrub ihn in der Mitte der Landstrasse.
Es schneit in den Bergen und die Tiere sind
alle in das Tal gegangen. Der Sturm
schnitzt grosse Schneetürme. Der Fotograf
klettert auf den höchsten Gipfel, dort sitzt
er und forscht bekümmert zwischen den
Wolken. Er ist mager und wird nie sterben.

Ueber die Möglichkeit einer
neuen Religion

William Wauer
I .
Was ist Religion?
Ein Notmittel.
In welcher Not befindet sich der Religions-
bedürftige?
Wogegen braucht er ein Mittel?
Gegen die Unsicherheit seiner Lebenslage,
seiner Mensch-Lage.
Der Mensch fühlt eine Notlage und sucht
ihr abzuhelfen.
Die Abhilfe, die er sich schafft, ist das, was
wir Religion nennen.
„Religio“ heisst Götterscheu.
Es ist kein deutsches Wort, sondern ein la-

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