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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Drittes Heft
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Walden, Herwarth: Neue Reisekopfbücher: 1) Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0060

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Und blute blasser schon aus vielen Wunden
Nun brennen meine Lippen Dir entgegen
Und küssen Dich im Wiegen weiter Wälder
Ich bin in allen Gluten Deiner Sonne
Ich trage alles Licht in meinen Strahlen-
händen
Hin zur Erde
Und lege Deinen Leib in weiche Sommer-
wolken
Zwei Blumen blühen frühlingsfrüh ver-
schämt
Und sehnen seidensacht den warmen Schoss
Und nun sind wir im Werden allen Mensch-
seins eingeschlossen
In brustzerrissnen Nächten seelsang über-
blüht
Und unser Blut steigt ewigauf
Und zeitlos eilen unsre Stunden in das Nichts

Neue Reisekopfbücher
1) Berlin
Notizen (21. Februar 1923)
Berlin ist die Hauptstadt der Vereinigten
Staaten von Europa.
Die Stadt liegt in irgend einer Himmels-
richtung Vom Neckar, vom Bhein, von der
Elbe und von der Donau gleichweit ent-
fernt, von diesen Flüssen, die von trostlosen
Dichtungen umwogt sind. Oder botanisch
gesprochen überwuchert. Warum die ver-
ehrlichen Industriekonzerne noch immer
nicht die Vereinigten Staaten von Europa
gegründet haben, die doch sonst im Gründen
von Tochter-, Sohn- und Enkelgesellschaften
recht geübt sind und die, unschöpferisch
wie Industriekonzerne sind, einfach Amerika
nachzuahmen haben. Die Mark- und Franken-
drückerei einiger Leute ist ein Privatver-
gnügen. Es stört die übrige Menschheit so
erheblich, dass die Herren von den Kon-
zernen sich doch einmal in ihren Vergnü-
gungen belästigt fühlen dürften. Wenn die
Vielen vielleicht einmal merken, wie leicht
dieses Vergnügen zu stören ist.
Jedenfalls: die Hauptstadt der Vereinigten
Staaten von Europa ist vorhanden.
Berlin ist unpersönlich. Die Stadt hat den
Vorzug, dass sich an ihr die grossen Per-
sönlichkeiten den Kopf zerbrochen haben,
was durchaus im Interesse der Menschheit
liegt. Die Architekten haben vergeblich

diese Stadt zu zieren versucht, trotzdem
man ihr ganz Bayern, das halbe Griechen-
land und einen Best Italien aufgezwängt
hat. Auch der Expressionismus der gross-
und kleinbürgerlichen Kunsthändler ist
vergebens angewandt worden. In wenigen
Wochen hat Berlin den alten und den
neuen Schwindel verdaut und vergraut.
Selbst Architekten, die Dresden ver-
malen und die Alpen glasieren wollen,
selbst ihnen hat Berlin den Bücken gekehrt.
Berlin hat einen breiten Rücken. Berlin
ist der Sitz sämtlicher Reichs-, Landes- und
Grosstadtbehörden. Sie sind so eingerichtet,
dass ganz Europa in ihnen mit verwaltet
werden kann. Sie sind Muster dafür, wie
Maschinen konstruiert sein müssen. Jede
Maschine existiert für sich ohne Rücksicht
auf das äussere Leben. Maschinen sind
Organismen, die mit anderen Organismen
nichts zu tun haben, genau wie dieMenschen.
Das Unglück entsteht erst bei der Verbin-
dung von Organismen. Sympathien sind
wie bei den Menschen leicht zu erkennen.
Die Post hat ein gewisses Interesse für die
Eisenbahn, die Eisenbahn leider wieder
weniger für die Post aber mehr für die
Finanzen. Die Finanzen interessieren sich
weniger für den Handel aber destomehr
für die Reichswehr, in den Vorzeiten Krieg
genannt Die Reichswehr wieder für die
Landwirtschaft, die Landwirtschaft mehr
für das Innere, während das Innere sich
nicht für das Auswärtige, wohl aber für die
Verhütung von Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung interessiert. Dagegen ist nichts
zu machen, da sich Liebe bekanntlich nicht
erzwingen lässt.
Berlin hat einen sozialistischen Magistrat,
der das Wesen der Privatwirtschaft ergründet.
Darunter versteht er, alles so billig wie
möglich an die Privatwirtschaft zu verkaufen.
Für alle Sitze der Behörden hat Berlin den
unbekümmerten breiten Rücken. Für diese
Stadt sind Abstraktionen nicht vorhanden.
Diese Einrichtungen sind intellektuelle
Freuden für die Bürger im Geist.
Für die Bürger im Geist hat Berlin einen
weiteren Gehirnsport: diegrosseTagespresse.
Das sind Inseratenunternehmungen, die das
Trustsystem erkannt haben und für den
kleinen Mann und die kleine Frau als Zu-
gabe zu den weniger interessanten Inseraten
grosse Politik und grosse Kunst liefern.

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