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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Siebentes Heft
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Walden, Herwarth: Befreiung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0119

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Befreiung
Die Welt ist aus den Fugen. Der Schrank
klafft und an ihrem Inhalt kann sich die
freie Wirtschaft uneingeschränkt bereichern.
Selbst die Fugen werden zum Kurs frei-
bleibend verkauft und gehandelt. Die freie
Wirtschaft schafft keine Werte, sie schafft
sie fort. Irgenddorthin, wo das Gold im
Stahlkasten klingt, wobei Klingen nur das
Symbol der geistigen Menschheit bedeutet.
Die geistige Menschheit hat es gut. Denn
sie ist wertbeständig. Sie hat fixe Ideale
und fixe Ideen. Sie tauscht Ideale gegen
Ideen und Ideen gegen Ideale, dass die
Fixer ihr Vergnügen hätten, wenn diese
Wertobjekte an der Börse zugelassen wären.
Das unbeliebte geistige Deutschland begibt
sich indessen auf Reisen. Der Chefredakteur
der Vossischen Zeitung bestätigt dem König
von Schweden, dass er herzliches Taktgefühl
habe. Der Theaterkritiker des Berliner
Tageblatts bestätigt Spanien den Glanz seiner
Sonne. Der Dichter Eulenberg trägt den
Amerikanern seine Nach-Dichtungen vor.
Professor Einstein klärt den Mikado über
die Relativität aller Dinge auf, einschliesslich
der Fixsterne. Der Oberbürgermeister von
Cassel Dänemark über die Ursachen der
deutschen Revolution, Doktor med. Arthur
Schnitzler Schweden über die Erotik und
Kaiser Wilhelm der Zweite Holland über
die schlechte deutsche Theaterkunst. Kurz:
die geistige Menschheit macht sich. Sie ist
auch in dem beliebteren übrigen Europa
nicht besser. Das liegt an der Ueberschätzung
des Geistes. Geist ist eine kluge Ausrede
für faule Leute. Deswegen gibt es besonders
viele Menschen, die ohne Hingabe des Körpers
den Geist bedienen. Dafür aber mit ganzer
Seele. Sie reden sich und anderen ein, dass
der Geist die Welt beherrscht, trotzdem sie
zur Zeit aus den Fugen gegangen ist. Dafür

kann aber nur die menschliche Unvoll-
kommenheit, die nur im Geiste vollkommen
ist. Resultat: Wertbeständigkeit des Handelns.
Es wird nur gehandelt. Nicht nur deine
Sache, deine Sachen werden gehandelt.
Schon die Römer verstanden dieses Geschäft:
Tua res agitur. Nur klingt es auf lateinisch
geistiger, weil man Handeln mit Tun
getauscht und getäuscht hat. Getan wird
nichts. Hingegen gehandelt und allenfalls
verhandelt. Soweit dieses Geschäft in Massen
betrieben wird, nennt man es wohlwollend
Politik. Hier wird nicht die Masse verkauft,
hier werden die Massen verschleudert. Man
hat die Ware mit dem Begriff Nation
etikettiert. Man hat der Ware auch ein
Land gegeben, wo sie aufgestapelt wird.
Dieses Land heisst in der Uebersetzung
aller Sprachen gleich. Es heisst Vaterland.
Die beliebten Väter gehen auf Reisen und
verkaufen die Länder, dass die Welt aus
den Fugen kracht. Die Mütter jammern
über die Erde und die Kinder mit ihnen, bis
die SöhneVäterwerden und gleichfalls Länder
und Schwestern verkaufen können. Damit
die Massen ihren Verkauf bestens oder auf
Termin nur geistig empfinden, hat man
ihnen einen Obervater erfunden, der sie alle
verprügeln darf. In älteren Zeiten nannte
man ihn König, in neueren Präsident. Und
damit die liebe Seele auch ihre Ruhe hat,
wurde noch der Gottvater erfunden, der
die Massen nach dem belanglosen körper-
lichen Tode weiterhin bestrafen darf. Dem
Volke, den Völkern wurde also von den
Händlern Religion und Nationalgefühl be-
liehen, und zwar gänzlich zinslos. Die
Geistigen, die sowieso nichts zu tun haben,
stürzten sich mit Begeisterung auf diese
kostenlosen Leihgaben. Sie entwickelten
sie so konkret, dass sie zunächst ihnen selbst
die Hälse brachen. Da lagen sie nun ohne
Kopf, aber der Geist lebet ewiglich. Religion

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