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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Zehntes Heft
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Déry, Tibor: Blaue Glasfiguren, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0183

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Blaue Glasfiguren
Tibor Dery
Fortsetzung
— Wie viel Zeit haben wir vergeudet! —
sagten die Glasfiguren, als die Jüngste zu-
rückkehrte. Eine lange Narbe zog sich über
ihre Stirne, ihre Flügel waren rissig und
fahl wie Holz.
Als es Abend ward, bogen sie um die Ecke.
— Bleib stehen — riefen sie — bleib
stehen! —
Sie waren sehr müde, doch liefen sie weiter.
Am Ufer des Baumwollensees nahmen sie
Anlauf und übersprangen drei Stunden.
Eine zertretene Sekunde blieb mit blutenden
Gliedern auf dem Weg liegen. Längs der
Allee sprangen Schusterbuben herum und
zeigten den Glasfiguren ihre roten Hinteren.
— Lasst uns hinunterspucken! — sagte die
Jüngste. Doch sie war äusser Atem!
Auf dem Dach des Zollamtes tanzte ein
grosser Vogel. Eine dicht gedrängte Menge
stand im Hof und starrte mit offenem Mund
auf das Dach. Ein Neger kroch hinauf,
küsste den Vogel, verschlang ihn dann. —
Gebt mir in Fett gebackene Mehlspeisen
und Oelfrüchte! — rief er hinunter, umarmte
den Mond und tanzte. Der Schatten packte
ihn im Flug und frass ihn auf. Ein anderer
Vogel sang und verband die leuchtenden
Köpfe der Türme mit Wolkenhaut. Es
wurde finster. Dieser Vogel musste darum
sterben.
— Man muss die blaue Zitronenblume von
der Spitze des Blitzableiters abschneiden
— sagte der Postbeamte und telegrafierte
die Weisung nach Sidney, Neu-Zeeland und
nach dem Kap der guten Hoffnung.
Der Totengräber sagte: Küsse den Erdboden
und streu dir brennendes Natrium auf die
Haare. In zwei Monaten wird deine schöne
Schweizerkuh siebenfach kalben.
Er küsste die Erde. In der Nacht ging er
in den Stall, das Gesinde zog am Strick
soeben das siebente Kalb aus dem Mutter-
leibe der Kuh. Alle waren erstaunt. Doch
der Schatten stürmte hinter dem Stall
hervor und verschlang die Erstaunten, die
Schweizerkuh, die sieben Kälber, den
Herren, den Totengräber, die elektrischen
Birnen und das Heu aus dem Stall. Nur
eine Spinne blieb auf dem Türpfosten am
Leben, in der Früh flog sie fort und er-

zählte den Glasfiguren, was sich zugetragen
hatte.
— Ein unwürdiger Gegner! — sagten diese
— er verwüstet die Wunder, Aber er weiss
noch nicht, dass sich in den Lücken der
Zeit seltsame Geschöpfe verbergen. Er wird
am Schlag sterben, als Folge von Ueber-
ernährung. —
Sie liefen weiter, unter ihren Fiissen erglänzte
das Schienennetz der asiatischen Hauptstadt.
Ein Zug pfiff via Avricourt-Ostende, auf
dem Dach der Schlafwagen lag der Schatten
und schnarchte. In der Mitte des himm-
lichen Reiches sass ein gelber Mensch in
einem Turm und sang. Tote Kulis und
und fruchtbeladene Flösse schwammen in
rosafarbigem Nebel auf dem Jang-ce-kiang,
aus dem Munde des Steuermanns flog ein
goldener Drachen heraus, drehte sich
leuchtend über dem Wasser und zeigte den
Weg. — Hört ihr die singenden Türme
längs des Ufers? — fragten die Glasfiguren
einander und nickten gerührt mit den
eckigen Köpfen. Auf einer Wiese blies ein
Schäfer die Schalmei, weisse Mäuse und
sanfte Affen weideten zwischen dem Kaktus-
Seine Geliebte stand unbeweglich in einem
Hügel, auf ihren unzähligen Zitzen sassen
gelbe Tauben, gelinder Wind wehte, himmel-
blauer Sommer, — du sanftes Liebchen! —
sagte der Schäfer und küsste ihren mond-
leuchtenden Bauch. Die Kinder schnitzten
Götter aus Mandelkernen und ein betrunkener
Bildhauer fing seinen entschwebenden Atem
ein, knetete eine rote und goldene Pagode,
trat betend ein und kam niemehr zum
Vorschein.
Der Chinesenkaiser nickte mit dem Kopf.
Die Weissen zogen ein, das Denkmal der
Kuh stürzte zusammen.
— Was sind das für Tiere? — fragten die
Eingeborenen.
— Gebt ihnen Mandelmilch und mitleid-
volle Märchen! — sagten sie — vielleicht
besänftigen sie sich. —
Sie tanzten um das Feuer, auf dem Reis-
suppe kochte. Assen duftende Wurzeln.
Ihr Haar zurückgekämmp grosser Sturm
entstand, grosser Schrecken, wo der Fluss
den Schlamm ausspie. Die Tempelschwellen
streichelten sie, schlechte Dämonen fliegt
weg, tut uns nichts zuleide, auf unserer
Handfläche haben alle Kinder Platz. Grosses
Unglück!

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