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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Neuntes Heft
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Déry, Tiborné: Blaue Glasfiguren
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0155

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Blaue Glasfiguren
Tibor Dery Fortsetzung
Dies geschah. Der Vogel sagte: wohl dem,
der mit den Hühnern zu Bett geht und früh
aufsteht. Die Engel niessten. Der Vogel
sagte noch: man kann nicht wissen, was
im Dunkeln geschieht. Grosses Unglück!
Kaum dass es dunkelte, bogen die Glas-
figuren um die Ecke. Sie atmeten heftig
und waren sehr müde.
— Bleib stehen! riefen sie — bleib stehen!
Sie waren müde, liefen aber weiter. Den
sie verfolgten, war kein Tier, rannte aber
gut. Die grösste fisische Geschwindigkeit
ist 300 000 Kilometer in der Sekunde, davon
konnte noch keine Rede sein — aber wenn
man ihm zurief: bleib stehen! — befand
er sich in der nächsten Sekunde bereits am
Gipfel des Berges. Und die Glasfiguren
trotteten hinter ihm her, wie kleine trauernde
Esel.
Viel Rauch lag über dem Geleise. Ihre
Füsse stiessen klirrend gegen die Schienen,
das Eisen sprühte blaue Funken, es war
demnach hell und sie stolperten nicht, wenn
sie die Bahndämme überschritten. Die Züge
liefen zischend dem Bahnhof zu. Einen
warfen sie beinahe über den Haufen, als er
aus einem finsteren Tunnel heraus stürzte,
aber sie bemerkten ihn noch rechtzeitig und
zogen ihre Füsse zurück. Nichts geschehen!
Nur der Rauch beisst das Auge. Der ferne
Bahnhof rot erleuchtet, die Signallampen
drehten sich im Kreise und warfen ihr grünes
Netz über die zerstreuten Zinskasernen.
Aus dem Zug schleuderte jemand eine
brennende Zigarre, in einem offenen Fenster
stand ein Gramofon, tropfte gelbe Lachen
auf den Asfalt. Mehere Familien badeten
soeben in ihnen.
— Die Vorstädte besitzen wenig Würde —
sagten die Glasfiguren. — Was essen wohl

hier die Leute tagsüber? Schwer verdauliche
Speisen machen den Menschen cholerisch
und berauben den Körper seiner natürlichen
Grazie. —
Sie liefen weiter, blieben aber bald stehen
und schauten aufmerksam in die Luft. Ein
grosser Korb voll Licht schwamm langsam
über dem Wald, eine silberne Henne brütete
darin und schaute mit erschrockenen Augen
herunter. Wind wehte unter dem Korb
und blies von den Stirnen die Hüte und
die Blätter in den Staub. Einen Monat lang
schwebte der Korb mit grossem Licht,
verschwand dann hinter den Fabrikschloten.
— Heute geschehen Zeichen und Male —
sagte eine Glasfigur und wischte sich den
Schweiss von der Stirne.
Indessen stand die Jüngste vor einem Eckstein
und verrichtete ein Bedürfnis. Schreiend
wandte sie sich um. — Heute erreichen
wir ihn . . . heute erreichen wir ihn . . .
laufen! — rief sie, sie setzten sich in Be-
wegung und wateten durch den Fluss. Die
Jüngste unterbrach, was sie angefangen,
entfaltete begeistert ihre Flügel und schwebte
singend in die Luft. Glut kreiste in ihrer
Brust und warf starken Glanz auf die nächt-
lichen Wiesen. Die Schmetterlinge flatterten
empor, saugten sich an ihrem hellen Herzen
fest und aus den moosbewachsenen Lücken
der Zeit krochen Salamander hervor und
warfen ihr glotzend die grünen Bänder ihrer
Blicke nach.
Sie liefen mit geschlossenem Mund. Auch
die Kiesel sprangen hinter ihnen, die ge-
flügelten Flöhe schrieen kurz und der
Schelisunschmetterling entbot ihnen das
sanfte Erbarmen seines Atems. Alle Linien
verlängerten sich, die Kreise drehten sich,
die Flächen schwollen zu Körpern, in den
Lücken rieselte grünes Wasser und den
toten Kaninchen flatterten die rosa Ohren. In
den Augen eines Dichters erglänzte das Fest.

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