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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Neuntes Heft
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Déry, Tiborné: Blaue Glasfiguren
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0156

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Der Schatten wanderte auf der Landstrasse,
als sie ihn erblickten. Wieder war er hungrig.
Sprach eine alte Frau an:
— Was isst du? —
— Brot —
— Du lügst! — sagte er — das ist ja röter,
als der Mond, wenn Krieg ist. —
Die alte Frau schrie erschrocken: es ist
rot, weil du es anschaust und deine Augen
rot sind!
— Lass mich singen! — sagte der Schatten
und neigte sich zu den Ohren der Alten.
Dann hob er sie in die Höhe, schob sie in
den Mund und schluckte sie. Die Glasfiguren
sahen von weitem, wie der kleine Bissen
in dem durchsichtigen Körper bis zum Bauch
sank. Sie liefen, um ihn zu erreichen. Aber
hatten sie elektrische Schwingen?
Im Wald frass er ein Kind. Aber das Kind
war klein, so frass er auch seinen Vater
und seine Mutter. Dann frass er das Haus
mit den Möbeln, den Blumen und dem
Feuer, das im Kamin brannte. Die Tiere
und die Menschen im Dorf sahen ihm
schaudernd zu. Das dauerte fünfzehn Jahre.
Der Mond hat grosse Augen, jeden Monat
schaut er einmal herunter, ob es noch kein
Ende hat
Zwei Männer trafen ihn, als sie aus dem
Amt nachhause gingen. Kaum dass sie ihn
sahen, wurden sie toll. Der Eine sagte dem
Andern: Du Niederträchtiger! Der Andere
sagte: Grausamer! Der Eine sagte: Du hast
den Schinken von meinem Tisch genommen!
Der Andere sagte: ich aber bin mager und
meine Gattin ist bei Dir! Der Eine hob die
Faust und sagte: in meinem Zimmer leuchten
die Frauen in der Nacht wie das Meer!
Der Andere zog ein Messer und sagte: das
Gesicht des Sommers ist verstört und die
Apfelkränze welken! Der Eine schlug zu
und sagte: du bist schuldig! Der Schatten
frass Beide und ging weg. Aber sein Bauch
war noch flach und schlug noch keine Wellen.
Die Glasfiguren konnten ihn nicht einholen.
Sie schwitzten, waren sehr müde und wollten
den nächsten Tag abwarten. Die Jüngste
schlug die Flügel zusammen und sank in
den Schatten eines Baumes, wie die Bienen.
Die Zweite blieb mit klirrenden Füssen in
den Telefondrähten stecken. Doch der Ael-
testen Brust füllte sich mit blauem Licht,
sie starrte erschrocken auf den tanzenden
Bauch des Schattens und auf seine durch-

sichtige Zunge, die in Spiralbewegungen die
Luft durchzog.
— Bu-bu! — brüllte sie auf der Anhöhe,
wie ein erschrockenes und rachedürstendes
Kalb, und auch die anderen Glasfiguren
schauten entsetzt auf die sich in der Ferne
verlierende, tanzende Gestalt.
Der Schatten schwamm über einen gedeckten
Tisch, die Stirnen der Gäste bewölkten sich.
— Vielleicht wird es regnen! — sagte der
Brautvater und schaute auf den Himmel,
wo keine Wolken lagen, aber auch kein
Mond und keine Sterne. Die Braut erschauerte
vor Kälte und wandte sich vom Bräutigam
ab. — Man muss das Licht anzünden! —
sagte eine Stimme, aber das elektrische Licht
brannte nicht, nur die Früchte der Bäume
leuchteten mit dunkler Glut über der Laube.
Die Glasfiguren befürchteten eine neue
Freveltat und stürzten noch einmal mit
müdem Marsch vor.
— ... eine achtungswürdige und grosse
Feier ... — sagte der Redner, der das
junge Ehepaar begrüsste. Er schüttelte sein
rotes Korallenherz, aus dem Wohlwollen
und Liebenswürdigkeit strahlten.
— ... ich liebe dich . . . — sagte der
Bräutigam träumerisch in der Richtung der
Sträucher.
— ... das Fleisch des Lämmchen war zart
und der Pfirsich wie ein Traum ... —
sagte der Schwager und dachte an die Ga-
zellen, die in Afrika frei leben und graziöser
sind als seine Frau.
Die Mütter zeigten sich die neuen Licht-
bilder, die der emsige Fotograf noch vor
der Abenddämmerung abgeliefert hatte. Die
Radiumsterne auf den Stirnen des neuen
Paares hatte er aus Herzensgüte nicht separat
berechnet. War doch jedermann zuvor-
kommend, dankbar und zart und mit guten
Wünschen überfüllt, wie des Vaters Herz
mit Stolz. Das war der gegebene Moment
für den Schatten.
— Bitte um ein Stück Torte und um eine
Rose! — sagte er zum Stubenmädchen, riss
es ihr aus der Hand und verschlang es.
— Bitte um eine Handvoll Braten — sagte
er der Köchin, die mit tränenden Augen
die Braut betrachtete. Riss den Braten aus
dem Rohr und schob ihn samt Schüssel
hinunter.
— Bitte um einen Heller! — sagte er dem
Ehrengreis, stach mit den Fingern in seine

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