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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Elftes Heft
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Walden, Herwarth: Weit und weiter - weiter
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0191

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Weit und weiter — weiter
Der Sturm treibt in das fünfzehnte Jahr.
Viel hat er vertrieben, was ohne Wurzel
sich hoch über den Boden reckte. Viel
hat er vernichtet, was sich Leben aus dem
Sein lieh statt aus dem Schein. Denn das
Sein der Sonne und der Kunst ist ihr
Scheinen. Von diesem Scheinen lebt das Sein.
Der Sturm braucht kein Interesse. Der
Sturm hat keine Interessen. Was fällt, fällt.
Was abfällt, fällt ab. Nicht ist der Sturm
da, aufzurichten. Nur wer ihm standhält,
steht im Sturm.
Nicht was standbält, wird gesehen. Nur
was fällt, wird wehleidig betrachtet. Ge-
wesen. Rührung weint in der Zeit. Kunst
ist unmenschlich.
Aber die Kunstmenschen interessieren sich
für die Zeit. Sie interessieren sich nicht
für das Geschaffene des Sturm, sie inter-
essieren sich für die Geschäfte des Sturm.
Und krächzen: Abrechnung.
Die Abrechnung steht in den Büchern, die
nicht die Welt bedeuten. Selbst diese
Zahlen werden zeugen, wenn auch die
Zeugen nicht mehr zählen. Die Menschen,
die Ränke erfinden, statt Kunst zu finden,
mögen diese Bücher ohne Interessen mit
Interesse prüfen. Die Verluste übersteigen
selbst ihre Einbildungskraft an Gewinnen.
Die Verluste sind unser Gewinn.
Wir haben gewonnen, weil wir verlieren
können.
Wir haben zu verlieren.
Denn wir sind im Sturm, der über die
Erde heult.
Uns ist die Schönheit im Sturm.
Unser ist die Schönheit des Sturms.
Denn der Sturm ist ohne die Wirklichkeit,
die dem Sturm verfällt.

Es gibt nichts Komischeres als Feindschaft.
Feindschaft ist Schwäche. Man wird böse.
Warum ist man nicht gut. Warum wird
man nicht gut. Das Endziel der Kultur-
menschheit heisst: Abrechnung. Kultur
heisst zählen können. Und rechnen. Die
ganze Jugend wird verrechnet und das
Alter will von der Jugend leben. Die
tiefste Verachtung der Kulturmenschheit
drückt sich in dem Satz aus, dass jemand
nicht bis drei zählen könne. Und Afrika
habe x Prozent Analphabeten. Und die
Prozente sind der Weisheit letzter Schluss.
Der Weisheit letzter Abschluss. Uebertrag
zugunsten der Kultur. Abrechnung für das
Hundert. Wer das nicht kann, wer das
nicht tut, der zählt nicht mit. Wo zählt
man nicht mit. Zahlen beweisen nicht
alles. Zahlen beweisen nichts. Zahlen be-
weisen nur Zahlen. Zahlen stehen auf
Scheinen, die der Kulturmenschheit das
Sein sind. Der Feind, diese freundliche
Bezeichnung, sucht stets nach Scheinen,
das heisst nach Quittungen über die Leistung
anderer. Bald steht er rechts, bald steht
er links, der Feind. Feinde, die sich zu-
sammenzählen, nennen sich gern Kämpfer
für die heiligsten Güter der Nation, Besser
hiesse es, für die Scheingüter einer ande-
ren Nation. Sowie etwas Güter wird, ist
es nicht mehr gut. Denn das Gute ist un-
berechenbar. Unzählbar. Ungezählt. Nur
der Feind zählt seine Gegner. Der Freund
hat nie seine Feinde gezählt.
*
Gut sein heisst eine Leistung um der
Leistung willen leisten. Also ohne Berech-
nung. Auch ohne Berechnung der Wirkung.
Selbst dem Kaufmann, dem Kulturträger
der Menschheit, ist der Mensch gut, auf
dessen Leistung er vertraut. Er glaubt an

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