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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Fünftes Heft
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Walden, Herwarth: Sinn und Sinne
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0083

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Sinn und Sinne,
Das Berliner Tageblatt lässt seine alten
Herren weiter gegen Kunst schreiben. Durch
ihre Tätigkeit sind im Ausland unsinnige
Vorstellungen vom Wesen und Wirken der
Kunst in Deutschland verbreitet Man glaubt
dort, dass Goethe und Schiller noch immer
jedes Jahr frisch und munter ihre Dramen
schreiben und sie Herrn Professor Reinhardt
zur Aufführung überlassen. Man glaubt dort,
dass Rembrandt und Tizian jedes Jahr zehn
Gross neue Bilder für die verschiedenen
Ausstellungsgelegenheiten senden. Man glaubt
dort, dass die Herren Hauptmann, Sudermann
und Fulda das deutsche Geistesleben dar-
stellen. Man sollte es dort wenigstens glauben,
wenn das Ausland sich auf das Berliner
Tageblatt verlassen würde wie die Berliner.
Die Abonnenten haben es gut. Sie erfahren
von Herrn Alfred Kerr persönlich, dass er
zum vierten Male nach Spanien reist. Ein
Jahr vorher hat er klugerweise nicht den
Berlinern, wohl aber den Amerikanern ein-
zureden versucht, dass er den Expressionis-
mus erfunden hat. So sieht der Expressionis-
mus des Herrn Kerr aus: „Ja, ich bin in
Spanien. Zum vierten Male in diesem Sein
.... Nach Bern und Genf und Verney
und Provence Narbonne. Endlich. — Und
wenn jemand etwa, Gott behüte, kein Dichter
ist, was er jedoch zu sein hat: so könnt er
es hier werden.“ Ecco, der Expressionismus.
Das ist der Theaterkritiker des Berliner
Tageblatts. Die Abonnenten bekommen von
ihrem Kunstkritiker Herrn Fritz Stahl einen
Aphorismus: „Bei allen langen Sätzen mit
langen Worten besteht die Wahrscheinlich-
keit, dass sie Quatsch sind.“ Hierauf schreibt
derselbe Herr Stahl: „Diese Wahrheit ist
wie alle Wahrheiten unbeliebt, weil dann
die Kunst wieder so schwer wird, wie sie
immer war, während sie kinderleicht ist,

wenn als Ersatz für Gabe und Können Ab-
sichten, grossartige Redensarten und be-
queme Rezepte zugelassen werden, wie das
in der letzten Zeit der Fall war.“ Hier be-
steht kaum noch die Wahrscheinlichkeit, dass
dieser Satz Quatsch sein könnte. Er ist es.
Und das alles, weil Herr Fritz Stahl es nun-
mehr für richtig hält, Kokoschka im Salon
Cassirerzu entdecken. „Kokoschka ist klüger,
als die Lober, die ihn seit zehn Jahren als
Meister austrompeten. Dazu gehört nicht
viel.“ Viel mehr gehört dazu, ihn nach zehn
Jahren als Meister auszutrompelen. Wenn
Herr Stahl seine Bildung über bildende Kunst
nur aus den Witzblättern bezieht, muss er
natürlich im Jahre 1923 diesen Satz schreiben:
„Dies ist die erste Ausstellung seit langer
Zeit, in der man etwas sieht, was an Ent-
wicklung denken lässt.“ Herr Stahl hätte
allerdings auch nicht mehr gesehen, wenn
er die entscheidenden Ausstellungen des
Sturm pflichtgemäss besucht hätte. Denn
eine Entwicklung kann man überhaupt nicht
sehen und am wenigsten in der Kunst. Die
Entwicklung, Herr Stahl, zeigt sich nur im
Börsenteil des Berliner Tageblatts. Die Ent-
wicklung kann höchstens bei der Art Kunst-
kritiker festgestellt werden, die kurzsichtig
wie Herr Stahl sind: sie hören nämlich
allmählich die Trompeten blasen, wenn sie
auch die Musik dann sehen. Jedenfalls hätte
Herr Fritz Stahl das Bild von Forel schon
vor elf Jahren im Sturm sehen können, wenn
er damals die Absicht gehabt hätte, klüger
zu sein, als die Lober. Heute schreibt nämlich
Herr Stahl über dieses Bild: „Solche Porträts
unserer geistigen und künstlerischen Grössen
sind ein wertvolleres Geschenk an die Nach-
welt . . .“ Vor elf Jahren hat Herr Stahl
dieselben Bilder von Kokoschka seinen Lesern
verschwiegen oder sie beschimpft. Hingegen
beschwert sich der dritte Mann, Herr Fritz
Engel vom Berliner Tageblatt darüber, dass

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