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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Achtes Heft
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Déry, Tibor: Er ist mager und wird nie sterben
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0144

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Er ist mager und wird nie
sterben
Tibor Dery
Nachts blies starker Wind, jagte grosse
Schwärme summender Goldfliegen gegen die
Stadt. Der Fotograf beachtete sie nicht, als
er das Glasdach öffnete. Er legte sich
schlafen. Um Mitternacht tanzte der Vogel
durch die Öffnung ins Atelier, schrie laut
und weckte den Schläfer auf. — Ich
möchte noch schlafen — sagte der Fotograf,
denn er hielt die Augen des Vogels für
Morgenröte und glaubte, dass unten auf dem
Asfalt die Mistwagen kreischten. Dann
warf er sich auf die Knie, weinte und flehte
um Gnade. Der Vogel aber sass ruhig auf
dem Dach des fotografischen Apparates.
Er sagte:
— Lüge nicht, sonst beisse ich dir in die
Kehle! —
— Ich habe kein Brot und keinen einzigen
Stern — sagte der Fotograf und sprang
jammernd in die Dunkelkammer. Doch der
Vogel nahm ihn beim Haar und zog ihn
zurück. Die Mäuse piepsten scharf und
beleuchteten mit gespenstischen blauen La-
ternen den Fussboden. — Ich hab’s! —
schrie der Vogel und zog aus den Ritzen
des Parketts die Fotografie der blonden
Jungfrau heraus.
Der Zeitungszusteller legte kalte Umschläge
auf die Stirne des Fotografen, die Milchfrau
rang die Hände. — Ich bin zu spät ge-
kommen — sagte der Bäckergehilfe — er
flog gerade zum Fenster hinaus. — Die
ganze Versammlung jammerte laut, draussen
donnerte der Himmel und rote Blitze kreuzten
über dem Glasdach. Der Regen strömte wie
aus Eimern und die gedunsene Leiche eines
Säuglings schwamm auf den Wellen des
Kanals vor dem Fenster vorüber. Der Vater
der geraubten Jungfrau erschien in Trauer-
kleidern im Atelier und riss sich mit den
Nägeln die Brust blutig.
Der Vogel aber tanzte unsichtbar über den
Wolken und wohin er trat, wuchs grosses
Unglück.
— Du wirst sterben — sagte die Mutter des
Fotografen, als sie nach Monaten ihren Sohn
wiedersah. Er sass unter dem Tisch, auf
dem Fussboden lag zerstreut sein ausgefallenes
blondes Haar. — Seit drei Monaten hat er

keinen Bissen gegessen — sagte die Haus-
meisterin und lief jammernd auf die Strasse.
Ein leuchtendes blaues Mal erschien in der
Stirne der Mutter. Sie löschte das elektrische
Licht aus und gab dem Fotografen aus ihren
Brüsten zu trinken. Dann starb sie. Dem
Fotografen wuchsen die Haare wieder heraus,
er stand auf und zündete das Atelier an.
Im Wald, Zwischen den glühenden Erdbeeren,
lauerte er dem Vogel auf.
Gib sie mir nur auf eine Stunde zurück! —
sagte er — dann kannst du mir die Kehle
durchbeissen —
Aber der Vogel nahm die Fotografie in den
Schnabel und flog weiter. Laut jammernd
folgten ihm auf der Landstrasse die Männer,
die ihre Frauen verlassen hatten und wie
die Hunde mit magerem Leibe litten. An
der Spitze rannte der Fotograf und bellte
vor Schmerz. Bienchen flogen summend
über ihren Köpfen und liessen süssen Honig
auf die müden Füsse fallen. Am Rande
der Landstrasse barst ein Baumstamm ent-
zwei, schleuderte Laternen aus seinem Inneren
und beleuchtete die Nacht.
Der rote Mond lag auf dem Himmel wie
ein trächtiges Tier und murmelte drohend.
Er trank eine Wolke aus und die Roggensaat
am Fusse der Berge trocknete ein.
Der Fotograf begegnete einem alten Kaufmann,
der aus dem Auto ausstieg, die Füsse des
Fotografen küsste und ihn folgendermassen
ansprach: Von deiner Stirne strahlen Radium-
sterne und du bist stark wie ein Büffel.
Ich werde dich in meinem Garten mit Milch
und in Fett gebackenem Teig speisen, erwärme
mir mein Alter!
Der Fotograf wurde in weisse Seide gekleidet.
Doch die Trauben im Geschirr trockneten
ein und der gebackene Teig fing feuer in
der Sonne. Im Garten lag er, ganz mager
schon, nachts beobachtete er die Männer,
die singend vor dem Zaun vorbeizogen und
den Vogel suchten. Die Frau des Kauf-
mannes verjagte sie mit ihrem Besen. Sie
gebar zwei gesunde Söhne, tanzte glücklich
im Schlafzimmer und der Stern des trau-
rigen Fotografen leuchtete. — Ich bin gesund
geworden — sagte der Kaufmann seiner
Gattin. — Und ich habe dir zwei Söhne
geboren — sagte die Frau. Über ihrem
Handgelenk schnitt sie sich die Ader durch,
mischte Blut in die Speisen, aber der Foto-
graf hörte eines Nachts die Stimme des

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