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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Achtes Heft
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Wauer, William: Ueber die Möglichkeit einer neuen Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0148

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teinisches und bezeichnet auch etwas Un-
deutsches, etwas Römisches.
Wir wissen nicht, wie die alten Römer das
Wort begriffen, auslegten und empfanden.
Jedenfalls nach Rauernart, die die Natur-
gewalten mit Scheu vor ihrer Uebermacht
verehrt Wir wissen, dass uns mit Scheu
allein heute nicht mehr zu helfen wäre.
Wir verstehen deshalb unter Religion etwas
Anderes, etwas uns Entsprechenderes, Um-
fänglicheres, weil wir die Naturgewalten
nicht mehr als Göttergesfalten begreifen.
Unser Gottesbewusstsein hat sich vergeistigt
und vertieft.
Wir nennen Religion das Verhältnis, in das
wir uns zu „Gott“ zu setzen suchen, um aus
unsrer Seins-Unsicherheit heraus zu kommen.
Wir sind nicht religiös, weil es ein Ver-
hältnis von „Scheu“ ist, das wir für nötig
halten, unsere unsichere Lage zu festigen;
sondern weil wir ebenfalls ein Ver-
hältnis zu „Gott“ für nötig halten.
Auch wir halten es heute noch für nötig,
uns zu „Gott“ irgend wie einzustellen.
Was aber ist Gott?
Gott ist zunächst ein Begriff — der Begriff,
der alles umgreift, in sich fasst und be-
deutet, was dem Menschen eben fehlt, um
zu einer Sicherheit seiner Lebenserfassung
zu kommen.
Gott nennt der Mensch also die Sicherheit,
die er braucht, in seiner Lage als Mensch,
gegenüber seiner eigenen und der kosmischen
Existenz.
— Gott nennt er das Mittel, mit dessen
Hilfe er seine Lage verstehen und ein-
richten will.
Inwiefern aber hilft ihm nun Gott dazu oder
das, was er Gott nennt?
Inwiefern kann und soll er ihm helfen?
Der Mensch fühlt sich im All schwach,
haltlos und dumm.
Er weiss nicht, wie er in den Wirbel, den
er Sein oder Leben nennt, hineingerät, was
er in ihm soll, wie er sich in ihm am
besten verhält.
Sein Denken, seine Kraft und sein Wille
zwingen ihn zu leben — erklären ihm
aber das Leben nicht. Im Gegenteil: gerade
das Menschsein macht alles problematisch.
Und das am meisten, wenn er leiden muss,
wenn es ihm schlecht geht.
In bösen Zeiten verliert das Menschendasein
anscheinend jeden Sinn für den Menschen.

Weshalb soll er leiden, warum muss er leben?
In solchen Zeiten braucht er in stärkerem
Grade eine Motivierung seiner selbst als in
sogenannten „guten“. In guten Zeiten scheint
das Leben schon eher lebenswert zu sein:
da braucht man keine „logische“ Motivierung,
man ist lebenslustig, man „amüsiert“ sich.
Deshalb sind die guten Zeiten die religions-
losen, die bösen Zeiten aber bringen immer
die Sehnsucht nach Religion, nach Daseins-
motivierung in stärkstem Ausmasse zur Gel-
tung. Schlimme Tage erinnern den Men-
schen wieder an seine Nichtigkeit unter
einem erdrückenden Schicksal im Allge-
schehen — so entsteht dann der Gedanke
der Strafe für die „Gottlosigkeit in den guten
Tagen.“
Gute Zeiten sind Zeiten des Leichtsinns, der
Oberflächlichkeit und Sinnenbetäubung. Böse
Zeiten sind die des Sichbesinnens, die der
Läuterung und geistigen Vertiefung des Le-
benswillens.
Denn in jedem Menschen — auch dem leicht-
fertigsten Geniesser — bleibt das dumpfe
Rätsel seines Seins bestehen und hebt in
leeren Stunden drohend sein Haupt und
fragt: was hat dein Leben für einen Sinn —
was hast du für einen Sinn?
Sinnloses und zweckloses Sein ist dem
menschlichen Denken ein Graus! Das
ganze Wesen seiner Natur sträubt sich da-
gegen, so sehr, dass die blasierten prinzipiell
unreligiösen Uebergeniesser dem Selbstmord
als einer gewaltsamen Selbsträtsellösung
immer näher sind als die Jammervollen,
die noch in der schlimmsten Gefährdung
ihrer Lebenslage um den Sinn ihres Daseins
ringen.
Der Selbstmord ist keine Antwort auf die
Frage nach dem Sinn des Lebens. Er weicht
ihr aus.
Wie kommt es also, dass wir uns vernichten,
um nicht sinnlos zu leben? Wie kommt
es, dass wir uns „nichtig“ fühlen, wenn
wir sinnlos leben?
Was zwingt uns zu fragen: was für einen
Sinn hat Leben, das Leben des Menschen?
Hat es überhaupt Sinn? Ist nicht Alles
— Unsinn?
Was gewinnt derMensch durch
das Wissen um den Sinn des
Lebens? Das ist die Frage.
Der denkende Mensch ist und fühlt sich
als eine Einzelheit im Kosmos, im All,

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