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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Achtes Heft
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Déry, Tibor: Er ist mager und wird nie sterben
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0146

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Vogels, grub sich mit den Nägeln ein Loch
in den Zaun und entfloh.
— Bleib stehen! — schrie er. Er kroch
auf die Spitze des Kirchturms und bewarf
den Vogel im Mondschein mit Kieselsteinen.
Der Vogel sagte:
— Du wirst mich nie einholen! —
Der Fotograf flog auf einen anderen Turm,
riss das Kreuz herunter und warf es auf
den Vogel. Dieser sagte:
— Bleib auf der Erde und heile die Kranken! —
Einen Monat lang regnete es. Die Menschen
richteten vor die Städte hohe Mauern aus
Aluminium, stülpten Drathglocken über die
Gassen und Tag und Nacht brannte das
elektrische Licht. Aber es blieb immer
finster. Als der Fotograf in die Stadt kam,
fingen die Menschen an zu schreien. Die
Männer sagten: Wir sehen unsere Frauen.
Die Frauen sagten: wir sehen unsere Kinder.
Alle zusammen schrieen.
— Der Sturm hat sich gelegt . . . wir sind
nicht erblindet! —
Aber kaum hatte der Fotograf die Stadt
verlassen, da wurde es wieder finster. Die
Menschen liefen ihm nach, erreichten ihn
vor dem Tor, brachten ihn wieder zurück.
Jeden Tag schlachteten sie ein weisses
Zicklein und garnierten es mit duftenden
Walderdbeeren. Der Fotograf sagte dem
Gefängniswärter, der ihn im Frack und
weissen Lederhandschuhen bewachte:
— ich werde sterben, wenn du mich nicht
frei lässt —
Er weinte, frass Erde und lief den ganzen
Tag neben der Mauer auf und ab. Er riss
sich das Haar aus. Die Männer wurden
traurig, wenn sie ihn erblickten. Doch die
grausamen Frauen liessen ihn nicht frei.
Der Vogel kreiste schadenfroh zwischen
den Türmen der Stadt, eilte mit leisem
Schwirren in die Berge. Im Herbst brachte
man die Ernte ein. Alle waren betrunken.
Der Fotograf kroch auf das Hausdacb, sprang
in den Graben hinunter und schwamm
unter Wasser mit den Karpfen ins Freie.
Er lief geraden Weges zum Vogel und kniete
sich jammernd vor ihm nieder.
Der Vogel wohnte auf dem Gipfel des Berges.
Einige Graben weiter baute sich der Fotograf
ein grosses Haus und umzäunte es sorgfältig
mit einer niederen Steinmauer. Als er auf-
wachte und auf das Dach kletterte, erblickte
er in der Nachbarschaft bereits ein neues

Haus und unten aus dem Tale schlängelte
sich ein langer schwarzer Zug den Abhang
hinauf. Er schloss sich in das Zimmer ein,
aber die Maurer hämmerten draussen so
stark, dass er nachts nicht schlafen konnte.
Auf dem Fensterbrett sass er, schaukelte
die Beine und schaute mit geschlossenen
Augen auf die in elektrischem Licht wach-
sende Stadt. Am Morgen rief er den Polier
zu sich.
— Hier ist ein Eimer voll geronnenen Blutes
— sagte er — misch es in das Malter! —
Die Menschen wunderten sich, dass die
Mauern im Sonnenschein lautlos zusammen-
brachen. Der Fotograf wanderte auf der
Dachtraufe, mit tränenden Augen suchte er
den Vogel und streckte sehnsüchtig seine
mageren Arme aus. Frühmorgens ging er
in den Wald, in der Mitte des Waldes war
eine Lichtung, in der Lichtung eine Quelle,
unter der Quelle schwammen die Neuge-
borenen mit geschlossenen Augen. Der
Fotograf ging von Haus zu Haus und zeichnete
mit Kreide Kreuze auf die Haustüren. Dort,
wo er zwei Kreuze zeichnete, kamen Zwillinge
zur Welt.
Aber das geronnene Blut ging aus und die
Menschen erbauten die Stadt. Jeden Tag
kamen neue Reisende in elektrischen Ma-
schinen an, kreisten über dem Gipfel wie
die Fledermäuse, stiegen in Scheinwerfer-
licht auf die Lichtungen nieder. In den
grossen Hotels lärmte die Menge, nachts
assen sie auf den Terrassen Gefrorenes und
unter Bogenlampen tanzten die weissen
Frauen. Der Fotograf konnte nicht schlafen.
Am Morgen sagte er einem kranken Menschen:
Hauch die Stadt an und ich werde Dich
heilen. Doch der Kranke wollte nicht.
Dann ging er zum Portier des Hotels und
warf sich vor ihm auf die Knie. — F ürchter-
lichev Engel! — sagte er — ich habe meine
Geliebte verloren. Wenn du deine Tore
schliessest, werde ich sie wiederfinden! —
Nachts weinte er, riss sich das Haar aus,
und der Stern auf seiner Stirne glänzte
dermassen, dass die Leute das elektrische
Licht auslöschten. In langen Reihen standen
die Autos vor seinem Haus, sie schwenkten
Tücher im Licht und tanzten vor dem Tor.
Drinnen in den Zimmern strömte Blut von
den Wänden.
Ein anderer Fotograf erbaute sich ein grosses
Haus in der Mitte der Stadt und behing es

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