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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Sechstes Heft
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Schreyer, Lothar: Anschauung und Gleichnis: Die Gegenwart der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0104

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Die Einheit des Geistes zeigt sich an im
Kunstwerk.
2. Die Gegenwart der Kunst ist das Zeugnis
des Geistes. Der Geist zeugt unablässig von
sich. Er zeugt von sich durch die Materie.
Er hat die Materie gezeugt. Er ist nicht der
Auszug, die Abstraktion der Materie. Sondern
die Materie ist von ihm ausgezogen, von
ihm gezeugt und kündet von ihm in der Kunst.
3. Jedes Kunstwerk hat ein höheres unsicht-
bares Vorbild. Ihm entgegen bildet sich
das Bild. In ihm eingebildet ist der Strahl
des unbegreiflichen Urbildes.
4. Das künstlerische Schaffen ist die Bewe-
gung der schöpferischen Kräfte im Menschen
und bewegt die schöpferischen Kräfte im
Menschen. Es gibt auch Kräfte im Menschen,
die nicht schöpferisch sind, die tot sind.
Sie sind die Erscheinung. Wer sich von
der Erscheinung bewegen lässt, dem erscheint
es nur so, als würde er bewegt, als bewege
er sich. Er ist tot und ist nicht.
5. Wer die Kunst zu einem Zweck verwendet,
treibt Magie. Darum hüte sich der Künstler
vor sich und hüte sich vor seinem Werk.
Darum wisse der Künstler, was er treibe.
Nur wenig Künstler wissen es, und noch
weniger Menschen, die ein Kunstwerk sehen
oder hören, wissen die geheime Kraft, die
sich im Kunstwerk eröffnet.
6. In jedem Künstler ist die Kraft, seiner
inneren Welt bewusst zu werden. Ein
unbewusster Trieb stellt die Bilder der
inneren Welt aus ihm heraus, damit er sich
kennen lernt. Die meisten Künstler lassen
sich treiben und beherrschen nicht ihre
Kraft. Die Gestaltungskraft hat den Künstler
und lässt ihn wieder ins Gestaltlose fallen.
Nur der Künstler, der eins ist mit seiner Ge-
staltungskraft, kann eingehen in den Himmel
seiner inneren Welt.
7. Der Künstler, der die inneren Welten
nicht kennt, ist wie ein blinder Maler, der
die Farben nur vom Ahnen kennt.
8. Jeder Mensch hat die schöpferischen Kräfte,
die ihn zum Künstler machen können. Aber
nicht in allen Menschen sind sie erwacht.
Sind sie erwacht, so ist der Mensch begabt.
Aus der Kenntnis seines Wesens kann der
Begabte die Voraussetzungen seiner Gabe
erkennen und steigern. Tut er das nicht,

so handelt er gegen seine Gabe, veruntreut
sie und verliert sie.
9. Das Kunstwerk steht in engster Beziehung
zum Organismus des Künstlers, wie er in
der inneren und äusseren Welt lebt. In
der Erscheinung des Kunstwerkes sind die
Gleichnisse der menschlichen Körperlich-
keit, Seelischkeit und Geistigkeit enthalten.
Ebenso ist jedes Kunstwerk ein Gleichnis
des Weltalls, in der die sichtbaren und
unsichtbaren Welten eingebildet sind. So
ist jedes Kunstwerk die Welt und eine Welt
für sich.
10. Die innere Welt vermag im Kunstwerk
nur der zu erleben, der selbst in einer
inneren Welt bewusst oder wenigstens
ahnend lebt. Die Formen der inneren Welt
sind unendlich und werden gestaltet von
dem Rhythmus des Lebens, wie er in jedem
Lebendigen herrscht. Je enger der Rhyth-
mus des erlebenden Menschen und der
Rhythmus, der das Kunstwerk gestaltet,
zusammenklingen, umsomehr erkennt der
Mensch das Kunstwerk.
11. Dass unsere Kunstwerke Gleichnisse
innerer Welten sind, kann niemandem be-
wiesen werden. Dass etwas bewiesen werden
könne, also allein durch logische Schlüsse
ins Bewusstsein gebracht werden könne, ist
ein Irrtum derer, die nur in der Welt der
Erscheinungen leben. Der Mensch kann
die innere Welt nur aus eigener Anschauung
kennen lernen. Er weiss sie oder weiss sie
nicht. Es kann bewiesen werden, dass es
keine inneren Welten gibt. Es kann bewiesen
werden, dass das, was ich anschaue, nicht
da ist. Da ich es aber anschaue, ist es in
meinem Bewusstsein, also für mich vor-
handen, wenn es auch andere nicht anschauen
können. Für die anderen gilt der Beweis,
für mich nicht. Ebenso schaue ich im
Kunstwerk das Gleichnis der inneren Welt
an. Es bedarf keines Beweises und keiner
Kritik der Logik. Wer beweisen will, weiss
nicht. Wer richten will, ist nicht richtig.
12. Ein Kunstwerk vermag im Menschen
nur dann innere Welten aufzuschliessen,
wenn er bereitet ist, sich zu öffnen. Ob
er dazu bereitet ist, das hängt nicht aus-
schliesslich von seinem Willen ab, wenn
auch der gute Wille eine Voraussetzung ist.
Notwendig für die Aufnahme ist ein auf-

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