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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Neuntes Heft
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Wauer, William: Ueber die Möglichkeit einer neuen Religion, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0167

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denklicheren Naturen sich aüfräffen und
den sinn verwirrtem Unheil alle ihre Kräfte
entgegenstemmen.
Meinungsverschiedenheiten müssen als das
genommen werden, was sie sind: leicht
irrende Gedankengebilde auf beiden Seiten,
die in keiner Weise irgend eine Autorität
in Anspruch nehmen können. Das Denken
kann niemand tragisch nehmen, der selbst
denkt. Er wird dadurch lächerlich und
leicht verbrecherisch aus Eigensinn.
Ketzergerichte sind der blutigste Blödsinn,
den sich die denkende Menschheit zu ihrer
Blamage und Brandmarkung leisten konnte:
Abfall vom Menschentum aus würdeloser
Gedanken-Herrschgier.
Auch der Glaube als grössenwahnsinniger
Schwertkämpfer eines alleinseligmachenden
Dogmas ist lächerlich und verbrecherisch.
Der Glaube muss an die bescheidene Stelle
zurücktreten, die ihm in der menschlichen
Gehirnarbeit angewiesen ist: er ist nicht
mehr als „Vermutung“ und hat dem Wissen
auf jedem Gebiete zu weichen.
Wissen hat der Menschheit noch
nie Schaden gebracht. Der Wissende
lacht des Widerspruchs aus seiner Gewissheit.
Nur törichte Schulmeister brauchen Gewalt,
um Wissen einzubläuen. Aber auch dieses
noch ist lächerlich und verbrecherisch: es
degradiert Wissen zum „Dran-glauben-
müssen“.
Der Kampf, den die Wissenschaft gegen
die anmassende und grausame Scheingrösse
„Glauben“ seit je zu führen gezwungen
war, ist eine Schande für den menschlichen
Geist. Es scheint mitunter, als habe sich
geradezu die ganze „Kulturmenschheit ver-
schworen gegen den einzigen Heilbringer
und Heiland der Welt, gegen die Heiligkeit
des G e i s t e s zu gunsten des Unheilbringer
und Ungeistes „Glaube“, der im Christen-
tum die Weltherrschaft glaubte antreten zu
können und behauptete, antreten zu müssen
aus Gottes Willen um Gottes willen. Die
Blasphemie dieser Anschauung liegt für
denkende Menschen auf der Hand.
Die prinzipielle Verdummung der Mensch-
heit mit Wissenssurrogaten aus Herrschsucht
sollte mit jeder Art von Untertanentum
endlich ihr Ende finden.
„Wissen“ braucht der Mensch aus
religiösem Bedürfnis: „Gewissheit“.
Aus diesen Erwägungen heraus versucht

der Monismus eine Religion zu geben aus
„Wissen“.
Er will durch eine überschauliche Allgemein-
belehrung und das Aufzeigen ihrer möglichen
Vervollständigung Sicherheit bieten für die
Einstellung des Menschen in die Natur auf
Grund wissenschaftlicher Beobachtungen
und Feststellungen, durch Erfahrung und
Erkenntnis allein.
Der Monismus stellt den Menschen an das
Ende einer konstatierten Entwicklungsreihe
als Abschluss; er erzählt die Entwick-
lungsgeschichte der Erde vom Urnebel bis
zum höchstgearteten Lebewesen. Aber wenn
auch nur Tatsachen berichtet würden, eine
„Geschichte“ muss Anfang und Ende
haben, um in sich zu ruhen. Die Entwick-
lungsgeschichte hat weder Anfang noch
Ende und bietet schon aus diesem Grunde
gerade an den entscheidenden Stellen
keinerlei Sicherung. Sie taucht auf im
Kosmischen und endet im Kosmischen: so
zeigt sie nichts als die alte Menschheits-
überzeugung, dass der Mensch in das kos-
mische Geschehen eingeschlossen ist. Wir
haben schon festgestellt, dass das dem
denkenden Geist nicht genügt zu seiner
Selbsterlösung durch Selbsterklärung.
Die Wissenschaft mit ihrer Einzelforschung
wird niemals im Stande sein, das Mensch-
seinsproblem aus sich heraus zu lösen; denn
auch die Totalsumme aller Einzel-
feststellungen, auch wenn sie sämmtlich
tatsächlich wären, würde uns der Problem-
lösung nicht näher bringen, weil das eigent-
lich „Rätselhafte“ nicht sowohl in den
Einzelheiten als vielmehr zwischen ihnen
liegt. Die Verbindung, der Zusammen-
hang, die Anordnung, die Bezieh-
ungen, die nicht konstatierbar sind, die
Imponderabilien, die aus dem Wesen
des Menschen selbst stammen und von ihm
in die Dinge hineingetragen werden, sind
gerade das Entscheidende.
Die Wissenschaft kann hier nicht helfen.
Der Wissenschaftler müsste sonst längst
der religiöse Mensch aus sich sein; und
der Wissenste in ihrem Sinne der Priester
und Heilige einer „wissenschaftlichen Reli-
gion“. Solche Ueberiragungen wären durch-
aus künstlich und unhaltbar, auch wenn
man sie versuchen wollte.
Wissen um Geschehen und Ge-
schehenes giebt noch keine

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