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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Zwölftes Heft
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Schreyer, Lothar: Irrdunkel und Licht
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0210

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die Morgenröte gehen. Andere Menschen
sehen den Sonnenaufgang nicht und schla-
fen in den Tag und wissen nichts von der
Sonne am Himmel. Andere Menschen er-
wachen zur rechten Zeit, wenn die Sonne
am Himmel aufgeht, und sehen die Sonne.
Ich aber schlafe nicht, sondern träume.
Darum will ich wach sein um Mitternacht.
XVII. Ein Hund heult in den Mond. Die
Scheinwerfer tasten den Himmel ab. Alle
Sterne haben Namen. Alle Menschen haben
Namen. Um das Rätsel des Wortes weint
ein Mensch.
XVIII. Die Gedanken stürmen gegen mich.
Die Begierden stürmen gegen mich. Die
Begierden stürmen aus mir. Die Gedanken
stürmen aus mir. Ich falle im Sturm.
Denn ich erdenke einen Halt. Denn ich
begehre einen Halt.
XIX. Ich denke die Gedanken, um sie zu
vergessen. Aber sie werden in das Buch
geschrieben, das niemandem vergessen wird.
Ich tue nach meinen Begierden, um mich
von meinen Begierden zu erlösen. Aber
sie werden in das Buch geschrieben, das
mein Los enthält.
XX. Ich bin in eines anderen Gewalt und
trage doch die Verantwortung für mich.
Wir tun unser Tagwerk und nähren uns
und kleiden uns und schlafen und vermeh-
ren uns. Und immer ist in uns wilde
unterdrückte Unruhe. Denn wir machen
uns schuldig, wenn wir unser Tagwerk tun,
wenn wir uns nähren und kleiden, wenn
wir schlafen und uns vermehren. Nun
kann ich meine Unruhe nicht mehr unter-
drücken. Nun bricht meine Schuld aus
mir als ein reissendes Tier, das mich frisst.
XXI. Ich sehe den schweren Traum der
Menschen. Sie träumen, dass sie erwachen.
Vor dem furchtbaren Gesicht fliehen sie in
die Nacht. Sie zerreissen ihr Innerstes.
Wund ist die Erde. In die Menschenwüste
fliehen wir irr. Ich bin unter den Menschen.
XXII. Ich will meine Leere füllen. Grauen
füllt mich. Ich sinke in meine Einsamkeit
und sehe mich als ein leeres Gefäss. Die
Gemeinschaft aller Grauen sammelt sich in
meinem Grunde.
XXIII. Ein blutender Kelch blüht in die
Welt. Die fremde Blume verschüttet ihren
Blutsamen in die Dürre.
XXIV. Der Verwüstung bin ich hingegeben.
Auslöschen will ich mich. Ich bin arm

und leer. Kein Quell ist in meiner Wüste
zu verschütten. Kein Licht ist zu löschen
in meiner Wüste. Der Sturm fährt durch
die Wüste.
XXV. Die Zeichen der Verwüstung verkün-
den, dass dein Tag kommen will. Stosse
dich in die Wüste und du wirst den Morgen
sehen.
XXVI. Wir gehen mit einer Fackel um
Mitternacht und suchen uns. Wir folgen
einer dem anderen und kommen uns nie
entgegen.
XXVII. Einmal habe ich den Stern gesehen.
Nun aber ist der Himmel immer in Wolken
und ich bin so müde, dass ich schlafe.
XXVIII. Alle Wege sind mit Steinen bedeckt.
Auf alle Wege streuen wir Rosen. Wund
sind wir von Stein und Dorn.
XXIX. Ich weiss die Menschen, die mich
lieben. Ich weiss die Menschen, die mich
hassen. So zerreissen mich die Menschen.
Ich weiss, dass ich liebe. Ich weiss, dass
ich hasse. So zerreisse ich mich.
XXX. Die Wüste liegt vor mir als eine
Versuchung. Ich spiele am Rande der
Wüste mit dem Sand und den hungrigen
Blumen der Wüste.
XXXL Fern heulen die wilden Tiere. Ich
kann nicht schreien und bin ein Tier in
der Wildnis. Und alle Menschen um mich
schweigen von dem Tier in mir.
XXXII. Wir nennen die Leere in uns eine
Tiefe und füllen die Leere. Ganz leer
müssen wir uns machen, um unsere Tiefe
zu füllen.
XXXIII. Die Mondscheibe schwebt über dem
hellen Hügel hoch. Der zarte Nachtwind
weht herab. Alle Menschen sind ruhig.
Immer sind alle Menschen ruhig. Das Ge-
wissen schläft. Das Wissen schläft. Kein
zarter Nachtwind weht uns wach. Immer
schwebt die Mondscheibe über dem hellen
Hügel hoch.
XXXIV. Ganz gerade geht ein armer Mann
durch den Menschenstrom. Die Menschen
haben ihm beide Arme abgerissen. Er kann
nichts tun. Ganz breit strömen die Men-
schen an ihm vorbei. Sie tun nichts.
XXXV. Wir müssen allein sein. Ein All
sind wir allein. Wir sehnen ein All zu
sein. Wir fürchten allein zu sein. Wir
müssen.
XXXVI. Alle nehmen uns, weil wir nie-
mandem hingeben. Gibst du einem etwas

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