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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 5
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Walden, Herwarth: Aus der Zeit für die Zeiten, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0085

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durch Arbeit und Leidenschaft ihres Führers.
Kein Chor von Berufsleuten oder von Bürgern
hat je diese Wirkung erreicht. Hier wird Kunst
mit rein künstlerischen Mitteln Erlebnis. Hier
wird das Erlebnis menschlicher Sinne Kunst.
Hier muß auch der Ungläubige hören, daß
Kunst Bedürfnis für Menschen ist, die Menschen
sind.
Schweigend, schneller noch als bisher erheben
sich die Gefangenen und stehen fast gebannt.
Und wieder singt die Gesangsgemeinschaft.
Alles Volkslieder aller Völker von Rosebery-
d’Arguto für den Chor eingerichtet. Auch
eine Negerweise.
Da tritt plötzlich aus den Reihen der Gefan-
genen ein Neger hervor. Er geht zum Diri-
genten. Er dankt dem Chor, daß er die Nation
der Neger nicht vergessen habe. Er werde es
später seinen Landsleuten erzählen. Jetzt fühle
er sich im Gefängnis nicht mehr so verlassen
wie bisher. Er tritt in seine Reihe zurück.
Grund seines Aufenthalts: politischer Verbrecher.
Das Gewissen der Menschheit pocht hörbar in
der Kirche.
Und da jauchzt das Orchester über den Raum
vergitterter Mauern in die Zeiten. Ungarische
Rhapsodie von Franz Liszt. Lebendes Tönen.
Tönendes Leben. Erde zur Welt geweitet.
Aber noch ist man auf der Erde. Noch bei
der Beratung der Menschlichkeit. Das wird
noch etwas dauern. Die Menschlichkeit hat
mehr Zeit als die Menschheit. Die Gefangenen
werden abgeführt. Das Leben ist zu Ende. Die
Gesellschaftsordnung muß fortgesetzt werden.
Vielleicht wäre es einfacher, mehr menschliches
und menschenwürdiges Leben zu genehmigen.
Gildenhall
Von Neu - Ruppin, dem brandenburgischen
Weimar, kommt man nach einem Spaziergang
in einer halben Stunde zur Siedlung Gilden-
hall. Man betrachtet mich zuerst nicht ohne
Mißtrauen. Denn neulich sei ein „Herr von
der Presse“ dagewesen und wollte die nackten

Weiber sehen, die nach Ansicht der Städter
zu einer anständigen Siedlung gehören. Sie
wurde deshalb wegen zu großer Normalität
verrissen und man ist jetzt auf die Presse
böse.
Den Siedlungen geht es wie der neuen Kunst.
Wenn etwas nicht so aussieht, wie man es
durch Vorstellungen sich vorstellt, ist es nichts.
In Gildenhall leben Handwerker mit künstle-
rischer Gesinnung. Keine Kunsthandwerker.
Sondern Menschen mit offenen Augen, mit
Liebe zu klaren Formen und reinen Farben.
Die expressionistischen Bilder haben den
Menschen der Gegenwart die Augen ge-
öffnet, sie wieder sehen gelernt. Auch den
Architekten. Auch den Handwerkern. Und
weil man die Blüte der Kunst erst nach
zwanzig Jahren erkennt und anerkennt, gibt
man den Früchten einen anderen Namen.
Trotzdem es Früchte nur dieser Blüten sind.
Sachlichkeit ist eine schöne und eine richtige
Sache. Die Erkenntnis von der Sachlichkeit
des Bildes heißt Expressionismus. Hingegen
ist Neue Sachlichkeit ein Pseudonym für auf-
gehellten akademischen Kitsch.
Die Architekten kratzen die Gipsgeschwüre
von ihren Häusern ab. Die echten Plastiken,
die sich unter den Balken bogen, werden
zur Schuttabladestelle gefahren. Die amtliche
Kunstkommission hat sie nach ängstlichen
Protesten greiser Kunstbeflissener als völlig
wertlos bezeichnet. Selbst die Ähnlichkeit der
betroffenen Größen wird amtlich bestritten.
Man findet ferner allgemein, daß grau greulich
sei und entdeckt Farben. Sogar die Kieswege
findet man amtlich nicht freudig genug. Jetzt
muß die Farbe nicht nur gesehen, es muß
auch auf sie getreten werden. Zwanzig Jahre
hindurch erhielt man Tritte, wenn man für die
Farbe eintrat. Aber besser, zu spät einsehen,
als nie sehen.
Nur die Möbelindustrie will nicht. Sie bewahrt
den Geist der großen Zeit. Die Wohnung ist
der Schmuck des Daseins. Also rauf mit dem
Schmuck. Durch die Laubsäge wird alles

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