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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

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No. 72 - No. 75 (4. Oktober 1866 - 25. Oktober 1866)
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591

Der Gedanke, daß unser Bürgcrthum eine Art politischer
Aristokratie aus seinem Schoße erzeugen wnfse, wird freilich
Vielen als aristokratisch, mithin reaktionär erscheinen. Jndeß
das thut nichts, es ist Zeit mit den alten verrotteten Vor-
stellungen aufzuräumen, nachdem es sich besonders in diesem
Sommer so recht deutlich gezeigt hat, daß wir auf dem bis-
herigen Wege und in der bisherigen Weise, Volkspolitik zu
treiben, niemals zu wirklicher Macht gelangen. Darüber bei
anderer Gelegenheit ein Mehreres.
Aus Sachse».
Ein Artikel in Nr. 72 des Wochenblatts des National-
Vereins, veranlaßt einen ungenannten Correspondenten aus
Leipzig zu einer Einsprache, deren wesentlichen Inhalt stvir
nachstehend folgen lassen:
„Ihr Corrcspondcnt „von dcr sächsischen Gränzc" sagt, „daß das
entsittlichende Regiment eines Beust einem großen Theile des Volks allen
politischen Muth genommen hat." Es thut damii einem großen Theile
des sächsischen Volks Unrecht. Wüßte das sächsische Volk, daß das Agitiren
für Preußen einem wirklichen und wahren Constttultonalismus zu Gute
käme, daß die gegebenen und noch zu gebenden Gesetze unverbrüchlich und
heilig gehalten würden, daß die preußische Verfassung ehrlich auSgcbaut,
oder in einer noch erweiterten und verbesserten Verfassung des norddeutschen
Bundes aufgehcn würde, wahrlich, cs würde sich mehr zu Preußen hinnctgen
nnd öffentlich Partei fürdassclbc nehmen. So, tm Gcgcuthctl, ist aber dem
sächsischen Volke noch zu sehr im Gcdächintß die Theorie von der Lücke
der Vc 'issung und der bekannte Ausspruch des preußischen Obertribunals
tm lctzlvergangencn Winter, den der Kladderadatsch in Nr. 6 vom 11.
Februar 1868 in einem Bilde, auf welchem ein Ast der Verfassung nach
dem anderen abgehauen wird, so wahr darstellt. Nun, sagt sich ein großer
Theil des sächsischen Volks, sind die Männer, die die Theorie der Lücke
Predigten und das Beil schwangen, um Aestc und Wurzeln dcr Verfassung
abzuhauen noch heute am Ruder, folglich sind auch dieselben Grundsätze
noch vorhanden, nur daß sie jetzt nicht ;zu Tage treten. Oder sollte er
anders sein? Sollte aus einem Saulus über Nacht ein Paulus geworden
sein? Männer, die in ihren Anschauungen fast grau geworden sind, ändern
dieselben unter hundert Fällen vielleicht nur einmal; das lehrt schon der
Hinblick auf die menschliche Natur. Man muß Alles das, was man bisher
für wahr hielt, für falsch erklären, man muß seine bisherigen Freunde
womöglich als Feinde und Gegner ansebcn :c. In Saul ging die llm-
Wandelung vor sich, als er noch ein junger Mann war und durch eine
außergewöhnliche Erscheinung. Werden Männer, deren Ehrgeiz mehr denn
je befriedigt wird, die ihr Ziel besser denn je erreichten, sich im Charakter
ändern? Gewiß nicht. Im Glücke ändert sich selten jemand, mehr vielleicht
noch im Unglücke, das ist eine bekannte psychologische Erscheinung. Wo
sind also die Garantien für ein Hcilighalten dec Gesetze? Wird derjenige,
welcher an dcr Spitze einer großen Militärmacht steht, nicht sehr leicht in
Militärdespotismus verfallen? Gewiß sehr leicht, wie die Geschichte aller
Zetten und Völker beweist. Soll das sächsische Volk für Zustände ein-
treten, die früher von einer überwiegenden Majorität des preußischen
Volks bekämpft wurden und von einem großen Theile noch jetzt bekämpft
werden? Gewiß nicht. Glauben Sie ja nicht, daß es einem großen Theile
des sächsischen Volks an politischem Muthe fehlt. Man will einfach seine
gute Kraft nicht vergeuden für eine Sache, die, den Lehren dcr Geschichte
nach, auf die Dauer unhaltbar ist."
Was hier über die preußischen Verfassungszustände und
die Männer der preußischen Regierung gesagt ist, hat leider
nur allzu guten Grund, als daß sich irgend eine wesentliche
Einwendung dagegen machen ließe. Ob aber in dem bis-
herigen Sachsen die öffentlichen Verhältnisse besser gewesen
als in Preußen, und ob sich Herr v. Beust als einen ge-
wissenhafteren Beobachter des Constitutionalismus bewährt
habe, als Herr v. Bismarck, das ist eine Frage, deren Unter-
suchung, auf dem Standpunkte des Leipziger Correspondenten,
immerhin der Mühe werth wäre, obgleich dcr Brief desselben
sie mit gänzlichem Stillschweigen übergeht. Für die sachliche
Beurtheilung des Gegenstandes aber, um den es sich handelt,
ist jene Frage und deren Bejahung oder Verneinung aller-
dings ohne großen Belang. Dieser Gegenstand ist nämlich
nicht das Interesse einer mehr oder weniger guten Verfassung
und Regierung dieses oder jenes einzelnen Staats, sondern
das Interesse der Macht, dcr Sicherheit, ja des Bestandes
der gejammten deutschen Nation. Wenn man im sächsischen
Volke die Souvcränetät dieses Interesse anerkennt, so wird
man die von Preußen an Sachsen gestellten militärisch-poli-
tischen Forderungen mit allen Kräften zu unterstützen haben,
oder sich den Vorwurf einer unverantwortlichen Pflichtversäumniß
gefallen lassen müssen. Ob dieselbe durch politische Zaghaftig-
keit oder einen andern Beweggrund veranlaßt werde, darüber
mag man verschiedener Meinung sein können. Ein viel

schlimmeres Motiv indessen, als die Muthlosigkeit, würde in
uusern Augen jedenfalls die superkluge Berechnung sein, welche
dcr Leipziger Corrcspondcnt am Schlüsse seines Briefes als
Erklärungsgrund für die sächsische Zurückhaltung anführt.
/X Bon dcr sächsischen Gränze, 18. Oktober. Die Verhält-
nisse in Sachsen werden von Tag zu Tag zerklüfteter, trauriger, unerträg-
licher. ES treten Erscheinungen hervor, welche auf deutschem Boden bis-
her unbekannt waren, Erscheinungen, welche an das dunkle Parteitreiben
romanischer Völker erinnern. In Chemnitz will die liberal-nationale
Partei, die natürlich unter den gespannten Verhältnissen doppelt auf ihrer
Hut ist, einem geheimen Sachsen-Trcubund auf die Spur gekommen sein,
dessen Agitation sehr an die Umtriebe der Köhler- und Kesselflickcrdandc in
Italien erinnert. Chemnitz ist eine Stadt von über 60,000 Einwohnern,
mit vielen tausend Arbeitern, um deren Beistand früher von den
Nachfolgern Lasalles gebuhlt wurde. Jetzt sind cs, wie man sagt, die
Herren Häpe und Herr Schwauß, die beiden Erpoltzeimänner des Herrn
ErministcrS v. Beust, die diesen Sachsen-Trcubund organisirt haben sollen.
Eine Geheimpreffe liefert gedruckte Zettel, deren Hauptinhalt in den hef-
tigsten Schmähungen und Verdächtigungen der Anhänger Preußens besteht.
Die Organisation einer liberalen Gegenwirkung, gegenüber den Dcnunci-
anten dcr Beust-Partei, ist unter solchen Umständen dringend geboten. Die
Beust-Partei »Hut Alles, um den Pöbel und die Soldaten gegen die na-
tional-liberale Partei aufzuhctzcn. Die Soldatenbrtefc aus dem sächsischen
Lager bet Wien sind angcfülll mit den heftigsten Drohungen gegen die
„LandeSvcrräthcr", wie man die Mitglieder dcr Naiionalpartei tm sächsi-
schen Hof- und Cascrncnton zu nennen beliebt. Preußen mag sich vor-
sehen! Setzt es sich nicht fest mit Sachsen, so wird dieses Älbertinischc
Königreich ein Pfahl tm Fleische Deutschlands, eine Handhabe für Deutsch-
lands Feinde. Geistlichkeit, Lehrer, Adel und Beamte wetteifern miteinander,
um die sächsische Loyalität in diesen Tagen dcr Prüfung, die dcr Herr
über Sachsen, seiner Sünden halber geschtcket, — das ist der salbungsvolle
Ton einer gewissen Gattung der sächsischen Geistlichkeit — zu stärken.
Was aber bedeutet sächsische Loyalität? Aufrechterhaltung der particulari«
sttschen Rechte des Königs, Haß gegen Preußen, Haß gegen die nationale
Einheit Deutschlands durch Preußen.. . Herr von Beust wußte, was er
that, als er eine systematische Corruption des VolkSgcistcs ins Werk setzte
und dieses Werk, es trägt jetzt seine Früchte! „Das Haus Wcttin wird
nie ein aufrichtiger Bundesgenosse Preußens werden", sagte mir neulich
ein sächsischer Bürger. Der Mann hat Recht. Preußen wird aber nach allen
den Dingen wissen, was cS in seinem, was cs in Deutschlands Interesse
zu thun hat.
* Aus Thüringen, 19. Octbr. Die Organisation» des Nord-
deutschen Heeres hat begonnen, in einigen Monaten wird die preußische
Armee, welcher die norddeutschen Contingcntc einverleibt werden,*) gegen
hunderttausend Soldaten mehr zählen. Was specicll die Thüringischen
Truppen betrifft, so werden diese 4 Regimenter zu 3 Bataillons bilden.
Nämlich das Regiment Weimar, Regiment Gotha-Sondershausen, Regi-
ment Meiningen-Rudolstadt und Regiment Altenburg - Renß. Diese
4 Regimenter werden in zwei Brigaden gethcilt und dem XI. Armeekorps
eingerciht Jedenfalls ist diese Organisation jedoch keine definitive;
sic ist aber nothwendig, um die preußische Armee für den N o thfall, und
ein solcher kann schon im nächsten Frühjahr eintreten, durch eine Anzahl
neuer, schlagfertiger Regimenter zu vermehren. Sobald erst die innere
Organisation des Norddeutschen Bundesstaats — um den officiellen Titel
zu gebrauchen — in Angriff genommen sein wird, wird auch die Frage
der Heeresorganisation ausgenommen und in Uebcrcinsttmmung mit den in
Preußen geltenden Grundsätzen über die Wchrverfassung gelöst werden.
Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in sämmilichen zum
Norddeutschen Bundesstaat gehörigen Ländern muß der erste Lchritt in die-
ser Richtung sein. Die allgemeine Wehrpflicht schafft nicht allein die mei-
sten Soldaten, sondern auch die intelligentesten. Die eben genannten thü-
ringischen Länder haben jetzt etwas über eine Million Einwohner und
stellten davon folgende Truppen, wobei wir die Erhöhung des Ersatzcon-
tingcnlS von I's auf V-"/o der Matrikel, wie dies tm Bundesbcschluß vom
27 April 1861 festgesetzt worden, mit einrechncn: Weimar 3685 Mann;
Meiningen 2100 Mann; Altenburg 1802 Mann; Coburg und Gotha
2046 Mann; die beiden Reuß 1365 Mann und die beiden Schwarzburg
1815 Mann. Das sind zusammen: 12,823 Mann. Preußen hat bet
seiner bisherigen Bevölkerung von 19 Millionen eine Armee von über
600,000 M. aufgestellt Wenn es das System der Stellvertretung und
die Bundesmatrikel seiner Wchrverfassung zu Grunde gelegt hätte, so
würde es kaum 238,000 Mann haben aufstcllen können, also ungefähr
soviel, wie cS im Anfang dieses Jahrhunderts auf den Beinen hatte. Wird
nun in Thüringen das preußische System der allgemeinen Wehrpflicht ein-
geführt, so giebt dies in den acht kleinen thüringischen Ländern gegen
36,000 Mann Soldaten.
Aber, wie gesagt, die allgemeine Wehrpflicht giebt, nicht nur die mei-
sten, sie giebt auch die intelligentesten Soldaten- Die thüringischen Unte-
richtSanstalten sind im Allgemeinen gut und was die Volksschulen anlangt,
so gebörcn sie vielleicht zu den besten in ganz Deutschland. Die Gemein-
den in Thüringen thun in dieser Beziehung sehr viel. Ich will nur ein
Beispiel anführen. Die Stadt Gera im Neußischen, eine Gemeinde von
17—18,000 Einwohnern, verwendet, trotzdem, daß in der Stadt ein Lan-
dcSgymnasium besteht, auf ihre Volksschule jährlich gegen 25,000—30,000
*) Nach den neuesten Mittheilungcn über die Verhandlungen mitSach-
scn scheint die Einverleibung, wenigstens des sächsischen Contingents, leider
mehr als zweifelhaft. D. H.
 
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