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Wolf, Gunther
Satura mediaevalis: Gesammelte Schriften ; Hrsg. zum 65. Geburtstag (Band 2): Ottonenzeit — Heidelberg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.15264#0113

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Schon Adalbero von Laon bezeichnet Gerbert um 1017 als ,Nectanebus' (nach antiker
Uberlieferung der Name des Zauberers und mythischen Vaters Alexanders des Gro-
ßen2). Alberich von Trois Fontaines berichtet um 1240 von Gerberts Teufelsverschrei-
bung (homagium diaboli)3. Wilhelm von Malmesbury (um 1080 - 1140) erzählt, daß Ger-
bert den wunderbaren sagenhaften Schatz des Octavian wiederentdeckt habe4. Vinzenz
von Beauvais (gest. 1264) berichtet vom sprechenden Haupt des Gerbert von Aurillac -
gleich dem des Sokrates.5 Diese Reihe könnte fortgesetzt werden und mehr oder minder
bis in unsere Tage.

Was ist dies nun für ein Mensch, dessen Persönlichkeit und Werk so fasziniert, zu sol-
chen Vergleichen (Nectanebus, Sokrates) verleitet und das Urbild der Faust-Sage abgibt?

Über Gerberts Herkunft wissen wir so gut wie nichts (,Aquitanus genere'), nicht ein-
mal sicher Name und Stand der Eltern, ja nicht einmal den genauen Zeitpunkt der Ge-
burt. Wir können letzteren aber auf etwa 945 erschließen. Schon jung (,a puero') war er
im Kloster Aurillac in den Cevennen und wurde dort erzogen. Dort blieb er, bis er wohl
um 967 als junger Mann (,adolescens') mit dem in Aurillac weilenden Markgrafen Borell
von Barcelona und Katalonien zog, um bei Bischof Hatto von Vich-Ausona (nahe Barce-
lona) vor allem mathematische Studien zu betreiben. Das nächste Datum, das wir ken-
nen, ist Gerberts Aufenthalt in Rom an Weihnachten 971, wo er Papst Johannes XIII. vor-
gestellt wurde, der den jungen Mann an Kaiser Otto I. weiterempfahl. Obwohl dieser
ihm anscheinend eine Stellung anbot, zog Gerbert 972 nach Reims, um dort weiterhin die
Logik zu studieren - offenbar mit so großem Erfolg, daß er von Erzbischof Adalbero, mit
dem er zeitlebens engstens verbunden blieb, bald als Lehrer und dann als Leiter der
Reimser Domschule eingesetzt wurde.6 Hier in Reims war der eigentliche Mittelpunkt
von Gerberts Leben und Wirken. Hier hat er sich insgesamt fünfundzwanzig Jahre -
zwischen 972 und 983 und dann nochmals von 984 bis 997 - aufgehalten, und von hier
aus hat er wissenschaftlich und - zusammen mit Adalbero - politisch seine Zeit wesent-
lich beeinflußt. Um 980 ist Gerbert in Ravenna nachweisbar, wo er in Gegenwart des Kai-
sers Otto II. mit dem Sachsen Ohtric, dem bekannten Gelehrten und präsumtiven Erzbi-
schof von Magdeburg, über die Einteilung der Philosophie disputiert.7 In Anerkennung
seiner Leistung erhält Gerbert 982/83 vom Kaiser die Abtei Bobbio in Oberitalien. Aus
diesem Jahr haben wir auch die ersten der über zweihundert Briefe Gerberts, die uns er-
halten geblieben sind - eine einzigartige Quelle für die Kenntnis seiner Persönlichkeit
und dafür ebenso wichtig wie die Historiarwn libri quattuor (Vier Bücher Geschichten) sei-
nes Schülers Richer, der wohl nicht ganz ohne Einflußnahme seines Lehrers schrieb.8

Bald nachdem Otto IL, mit dem er in enger Beziehung gestanden hatte, im Dezember
983 gestorben war, begannen Gerberts Schwierigkeiten in Bobbio. Die Gegnerschaft der
ottonenfeindlichen italischen Großen trieb ihn, die Abtei zu verlassen und Anfang 984
wieder nach Reims zurückzukehren - nunmehr als engster Berater und Vertrauter Erzbi-
schof Adalberos. In dieser Eigenschaft spielte Gerbert dann im deutschen Thronstreit der
Jahre 983/84 und danach im französischen von 987/88 keine geringe Rolle. Über seine
Wissenschaft fand er dann auch den Weg zu Kaiser Otto III.9. Die zwischen beiden er-
wachsene Freundschaft führte Gerbert schließlich nach Rom: 999 bestieg er als Silvester
II. (und als erster Franzose) den Stuhl Petri. Schon der an Silverster L, den ,Reichsbischof
Konstantins des Großen gemahnende Name war ein Programm - Seite an Seite mit dem
Kaiser wollte er den Populus Christianus lenken. In sein Pontifikat fiel die mysthische Jahr-
tausendwende, fiel die Gründung auch der Erzbistümer Gran für Ungarn und Gnesen für
Polen: Folgen einer weitgespannten Konzeption christlicher Reichspolitik. Während eines

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Aufstands mit dem Kaiser aus Rom vertrieben, konnte Gerbert, mit dem Tod Ottos III.
Anfang 1002 fast machtlos, erst nach der Wahl Heinrichs II. wieder nach Rom zurückkeh-
ren, wo er am 12. Mai 1003, noch nicht sechzigjährig, aber für seine Zeit hochbetagt, starb.

Hinter den äußeren Daten dieses Lebens steht eine Persönlichkeit, die als Politiker
und Wissenschaftler gleich bedeutsam war. Erstmals war Gerbert in den Kreis der gro-
ßen Politik getreten, als er 971/72 Otto dem Großen gegenüberstand, freilich einem
Mann der vorhergehenden Generation, zu dem der junge Mönch wenig Beziehung ge-
wann. Wie nicht anders zu erwarten, erfolgte Gerberts Einstieg in die große Politik über
die Wissenschaft: etwa zehn Jahre nach der Begegnung mit Otto I. erfolgte die ungleich
folgenschwerere mit dessen Sohn Otto IL, der wohl schon längst von Gerberts, inzwi-
schen weit über Reims hinausgedrungener, Gelehrsamkeit gehört und das oben erwähn-
te Streitgespräch mit Ohtric von Magdeburg, einem der gelehrtesten Männer in Deutsch-
land, veranlaßt hatte. Audi in diesem Disput ist es wieder die Wissenschaft, die Mathe-
matik und vor allem die Philosophie, die Logik als theologia intelligibilis, mit der Gerbert
glänzte und deutlich machte, wie sehr er seinem Gegner überlegen war.

Otto II. fand Gefallen an dem Reimser Gelehrten und belehnte ihn, wohl Anfang 983,
mit der weltberühmten Abtei Bobbio, die eine der reichhaltigsten Bibliotheken des
Abendlandes barg. Nur ungern schied Gerbert von Reims, wo er das volle Vertrauen des
Erzbi-schofs Adalbero genoß, der in Köln von Ottos des Großen Bruder Brun und dann
in Gorze geprägt war. Dagegen hatte es Gerbert als Abt in Bobbio, besonders seit dem
Tod Ottos IL, recht schwer: die Großen der Umgebung hatten sich teilweise die Kloster-
güter angeeignet. Gerbert sah sich im allgemeinen politischen Wirrwarr nicht in der
Lage, die Situation zu ändern. Ein Versuch nach Rom zu gelangen, schlug fehl. Auch ein
Aufenthalt in der Umgebung der alten Kaiserin Adelheid, in Pavia, war nur von kurzer
Dauer. Nach einigen Überlegungen Aurillac, die Stätte seiner Jugend, oder den Kaiser-
hof aufzusuchen, ging Gerbert zurück nach Reims - seit dem Tod Ottos II. ein Schnitt-
punkt der politischen Entwicklungen, in die Erzbischof Adalbero und, von Jahr zu Jahr
mehr, auch Gerbert selbst tätig eingriff.

Während nach dem Tod Ottos II. in Deutschland vor allem Erzbischof Willigis von
Mainz und - nach einem vergeblichen Versuch den westfränkischen Karolingerkönig
Lothar, einen Vetter Ottos IL, zur Reichsverweserschaft zu bewegen - auch Erzbischof
Adalbero für die Regentschaft der Kaiserin Theophanu eintraten, strebte Heinrich der
Zänker von Bayern, ein anderer Vetter Ottos IL, der sich des Kaisersohns Otto (III.)
bemächtigt hatte, nach der Macht im Reich. Erst nach langen, bis zum Herbst 984 dau-
ernden Streitigkeiten gelang es Otto III., unter der Vormundschaft seiner Mutter Theo-
phanu, die Regierung auszuüben. Diese Griechin scheint Gerbert sehr geschätzt zu ha-
ben und er selbst verehrte die Kaiserin.

Welchen Einfluß Gerbert in dieser Zeit (983 - 89) auf Adalberos Politik genommen
hat, auch auf Adalberos Votum gegen die Karolinger und für Hugo Capet, von dessen
Herrschaft sich insbesondere Gerbert die, ihm schon von Adalbero zugesagte, Nachfolge
auf dem erzbischöflichen Stuhl erhoffte - wissen wir im einzelnen nicht, doch spricht al-
les dafür, daß sein Einfluß nicht gering zu veranschlagen ist. Dennoch wurde 989, nach
Adalberos Tod, nicht Gerbert, sondern der Karolingersproß Arnulf Erzbischof von
Reims. Erst 991 wurde Gerbert, auf dem Konzil von St. Bale, durch Hugo, als Erzbischof
eingesetzt, gegen den Willen des Papstes, der, wohl auch auf Betreiben Willigis' von
Mainz, gegen Gerbert intervenierte und das Interdikt verhängte. Fast gleichzeitig kam
es, nach dem Tod der Theophanu, zu einer Entfremdung zwischen Gerbert und dem ot-

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