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Wolf, Gunther
Satura mediaevalis: Gesammelte Schriften ; Hrsg. zum 65. Geburtstag (Band 2): Ottonenzeit — Heidelberg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.15264#0114

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tonischen Kaiserhaus. Erst seit 995 lenkte Gerbert ein und lehnte sich wieder mehr an
Deutschland an. 996 zog er nach Rom und verteidigte sich im Mai auf der Krönungssyn-
ode Ottos III. Damals scheint Gerbert großen Eindruck auf den hochgebildeten, jungen
Otto gemacht zu haben, der sich am 21. Mai 996 von seinem Verwandten, Papst Gregor
V., krönen ließ und ,Romanorum imperator augustus ' nannte. Gerbert mußte zwar auf
Reims verzichten, aber noch im selben Jahr machte ihn der sechzehnjährige Kaiser, dem
er ein mathematisches Werk dediziert hatte, zu seinem Lehrer und Berater - etwa ab
Weihnachten 996 sind sie Freunde. 998 überträgt ihm Otto das Erzbistum Ravenna, die
Reichsabtei Nonantula und setzt ihn von neuem in Bobbio ein - und dem kaiserlichen
Freund gelingt es schließlich, Gerberts Erhebung zum Papst durchzusetzen.

Es ist höchst erstaunlich, welches Einvernehmen zwischen beiden in der Politik be-
stand, aber auch welchen Einfluß Gerbert /Silvester, in den wenigen noch verbleibenden
Jahren gemeinsamer Wirksamkeit, auf den Kaiser und seine Ideen gewann.

Neben dem eigentlichen philosophischen Einfluß auf Otto, von dem noch zu spre-
chen sein wird, war es vor allem Gerberts Verhältnis zur Antike, das bestimmend wur-
de. Für ihn bedeutete die Antike Richtschnur bis hinein in den Stil seiner Briefe, bis in
seine ethischen Vorstellungen, in denen das antike honestum obenan stand und denen
der Ruhm dieser Welt nicht fremd war. Kein Wunder daß Gerbert, als einer der engsten
Berater Ottos III., der ja selbst eine hervorragende, auch Antikes umfassende Bildung ge-
nossen hatte und bei dem sich der byzantinische Einfluß seiner Mutter Theophanu gel-
tend machte, den Romgedanken erneuerte - daß er Otto bewog oder bestärkte - über die
Anteiligkeit zu streiten ist angesichts der Quellenlage etwas müßig -, auch gegenüber
Byzanz sich auf die eigene Position des Imperator Romanorum und die römische Ver-
gangenheit zu stützen. Dazu gehört ebenso die Beschäftigung mit Boethius als Einstieg
in die Philosophie der Alten wie zum andern die Sicherung der Roma als caput mundi
durch die Wiedererrichtung der kaiserlichen Residenz im Jahr 998 - mit römischen Bräu-
chen selbst bei Tisch- und Hofordnung.

Mitten in diese Bestrebungen fiel der Tod von Ottos Vetter Gregor V.. Der Kaiser ließ
bezeichnenderweise Gerbert zum Nachfolger wählen. War, wie wir sahen, schon der
Papstname Silvester ein Programm, so sah sich Otto III. seinerseits als neuen Konstantin:
Kaiser - Papst, Rom und Renovatio - Pläne von gewaltigem Ausmaß zeichnen sich ab.
Das Zentrum des ottonischen Reichs verschiebt sich in jenem Jahr 999 ganz nach Süden -
nach Rom. Der Kaiser muß das Kaisertum erneuern, der Papst die Autorität des apostoli-
schen Stuhls: nach der Renovatio Roms die Renovatio des Erdkreises in gemeinsamem
Wirken von Kaiser und Papst. So fällt, nicht von ungefähr, auch in diese Zeit die erstma-
lige - bald wieder vergessene! - Erkenntnis, daß das Constitutum Constantini, die soge-
nannte ,Konstantinische Schenkung', eine Fälschung sei.

Freilich stand nur noch die kurze Zeitspanne von nicht ganz drei Jahren für die Ver-
wirklichung der großen Pläne zur Verfügung. Überdies machten die Römer bald einen
Aufruhr, Kaiser und Papst mußten die Stadt verlassen - Idee und Wirklichkeit! - Otto
starb schon bald darauf, Anfang 1002 und noch vor den Toren der Stadt. Gerbert/Silve-
ster, der die Rückkehr noch erlebte, folgte ihm ein gutes Jahr später.

Diese wenigen Jahre haben dennoch bleibende Bedeutung als eine Zeit der geistreich-
sten und gedankenvollsten Konzeptionen der Reichsidee des Mittelalters, wobei sicher
ist, daß Gerberts Anteil als Gelehrter, wie als Papst, nicht gering veranschlagt werden
darf - schon dies hebt ihn in seiner Zeit heraus. Noch weit größere Bedeutung freilich hat
er für seine Zeitgenossen und die Nachwelt als Wissenschaftler und als Philosoph.

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Die Wissenschaft war es, die ihm dreimal den Weg zu Großvater, Vater und Sohn, zu
Otto I., Otto II. und Otto III. geöffnet hatte. Lehrend hat er auf viele eingewirkt, auf die
Herrscher Otto III. und Hugo Capet, auf seinen Biographen Richer und mittelbar, über
Fulbert von Chartres, auf Berengar von Tours und die berühmte Schule von Chartres im
11. und 12. Jahrhundert, die bekanntlich noch auf Petrarca wirkte.10

Ausgehend von der Isagoge des Porphyrios und von Boethius bezeichnet Gerbert die
Philosophie, die sich als theoretische und praktische darstellt, als Gattungsbegriff, de-
ren theoretischem Teil Physik, Mathematik und Theologie als ,Artbegriffe' untergeord-
net sind, während der praktische Teil die Artbegriffe Ethik, Wirtschaftslehre und Politik
umfaßt.

Philosophie

theoretische praktische

I-1-1-1-1-1

Physik Mathematik Theologie Ethik Wirtschaftslehre Politik

II II II II II II

phisica mathematica theologia species species species

naturalis intelligibilis intellectibilis dispensativa distributiva civilis

Für Gerbert ist die Philosophie ,divinarum et humanarum rerum comprehensio veri-
tatis' (,die Erfassung der Wahrheit der göttlichen und menschlichen Dinge'). Sie gliedert
sich im theoretischen Bereich in die drei Stufen der naturalis, der intelligibilis und der in-
tellectibilis. Letztere, die theologia intellectibilis, gemeint als das innere Schauen der göttli-
chen Dinge, kraft der dem Menschen innewohnenden Vernunft, ähnlich der Logik der
vorisidorischen Zeit. Gerberts Einstieg in die Philosophie ist dabei die Mathematik, da ja
alles vom Schöpfer nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet und zugeordnet sei. So gilt
Gerberts Hauptaugenmerk auch dieser Disziplin und mit ihr der Geometrie und der
Astronomie. Eine für seine Zeit enorme Anzahl von mathematisch-geometrischen Schrif-
ten sind Gerbert zuzuschreiben: die Regulae de numeronim abaci rationibus (989 - 95); De
norma rationis abaci, Scholien zu Boethius' Musik und Arithmetik, mehrere Lehrbriefe
über astronomische Instrumente, über die Teilbarkeit der Zehn, über die Bestimmung
der Differenzierung von Tages- und Nachtlänge, über die geometrische und arithmeti-
sche Berechnung der Fläche, vor allem aber die Isagoge geometria, in der besonders viel
antikes Gedankengut verarbeitet ist, und die Ars geometrica.

In all' diesen Werken verrät Gerbert eine für seine Zeit außergewöhnliche Kenntnis
antiker Vorbilder und Texte, natürlich vor allem des Piaton und des Aristoteles. Auch
darf ihm wohl die Einführung des Abacus, der arabischen Rechentafel mit den Kolum-
nen für Einer, Zehner und Hunderter der westarabischen, auf die indischen zurückge-
henden Ziffern, zugeschrieben werden. Freilich, die Null kannte auch er noch nicht und
konnte infolgedessen die Möglichkeiten des Abacus noch nicht voll nutzen." (Immerhin:
allein die Verwendung derart fremdartiger Kenntnisse trug Gerbert schon zu seiner Zeit
den Ruf des ,Zauberers' ein, auf den eingangs hingewiesen wurde.) Daneben fertigte er
für die astronomische Belehrung unter anderem eine große Himmelskugel mit aufge-
zeichneten Sternbildern und drehbarem Horizontring; führte er in Reims die Musik als
Unterrichtsgegenstand nach langer Pause wieder ein, fußend auf antiker Überlieferung
und sorgte für ihre praktische Ausübung. Dem Gespräch mit Otto III. im Sommer 997

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