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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 3.1905

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Van de Velde, Henry: Notizen von einer Reise nach Griechenland, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4389#0340

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NOTIZEN VON EINER
REISE NACH GRIECHENLAND

VON

HENRI VAN DE VELDE

T^, Zur Rechten die Insel Aegina Der Wind
bläst und das Meer ist violett. An dem opal-
schimmernden Himmel hängt und schwebt dicht
ein blauer Reif. Von dem Steg aus, auf den ich
geklettert bin, um als erster Athen zu erblicken,
sehe ich unter mir die Menge der Reisenden:
Baedecker, Meyer, weisse Westen, rote Kravatten,
blaue Brillen und Panamas. Da drüben aber,
funkelnd inmitten der Masse von Blau, weiss ein
Punkt, ein heller Krystall, der Krystall der Kultur
der Griechen! —
%ä3 Parthenon.

^c^ Die Stufen der Propyläen steigt man hinauf, als
führe der Weg zu der Menschheit Gehirn.

Dort droben strahlt der Parthenontempel, wie
der schönste Gedanke, der Form gewann.

Naiv und einfach ein Gedanke, den Gehirn
und Seele des Griechenvolkes zur Wirklichkeit ge-
staltet haben, wie die Pflanze die Blüte zum Licht
treibt.

Der griechische Tempel — wie kindlich die
Konzeption.

Zwei und zwei ist vier; das ist ihr Wesen;
aber zwischen den Zahlen und ihrer Summe liegt
die ganze Unendlichkeit feinster Nuance, die aus
der abstrakten Summe einen lebendigen Organis-
mus schuf.

SCHLUSS AUS VORIGER NUMMER

%aK Das Gerippe des gotischen Doms entspricht
einem Exempel, das höchstens etwas schwerer ist,
als zwei und zwei; aber zwischen deren Einern und
ihrer Summe, da wimmelt es von göttlichen und
legendarischen, von mächtigen und wirklichen
Wesen; und sie alle leben auf Kosten des Ganzen,
sie zehren vom Leben des Bauwerks.
^X Der Griechentempel lebt von dem Ganzen der
Teile, die restlos und selbstlos aufgehen darin.

An dem Griechentempel hat die Vernunft das
Wesentliche erfunden, die Säule und alle die ande-
ren Teile. Die Griechengötter haben sich nicht
zwischen diese Vernunft gestellt und die künstle-
rische Gefühlserregung, die ihrer Vollkommenheit
zustrebte.

%ä)% Zwischen dem Holzpfahl des ersten Megaron
Homerischer Zeiten und der sublimen Säule des
Parthenon hat nichts sich eingeschoben von phan-
tastischer Willkür.

Es ist die normale Abwandlung der immer
gleichen Erscheinung, die angedauert hat Jahr-
hunderte lang. Und die Griechen, die mehr Götter
hatten, als wir, haben im Lauf dieser ganzen Zeit
sich durch sie nicht irre machen lassen in ihrer
folgerechten Tätigkeit, die noch heute als das Sym-
bol erscheint einer der erhabensten Konzeptionen
der Menschheit.

3ZZ
 
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