IMPRESSIONISMUS
VON
JULES LAFORGUE
PHYSIOLOGISCHER URSPRUNG DES IMPRESSIONISMUS
DAS VORURTEIL DER KONTURZEICHNUNG
lENN die Thätigkeit des Malers
vom Verstand und von der Seele
ausgeht, so geschieht dies doch
nur vermittelst des Auges, und
das Auge bedeutet also in der Malerei ganz dasselbe,
wie das Ohr in der Musik. Dieses zugegeben, so ist
der Impressionist der moderne Maler, begabt mit
einer aussergewöhnlichen Empfindlichkeit des Auges;
er vergisst die Gemälde, die sich durch Jahrhunderte
in den Museen angehäuft haben, er vergisst die schul-
mässige Erziehung des Auges (Zeichnung, Perspek-
tive und Kolorit), und weil er im Spiel der Lichter
im Freien lebt und unbefangen und naiv sieht, d. h.
ausserhalb eines im Winkel von 45 ° erleuchteten
Ateliers; sei es nun auf der Strasse, in der Land-
schaft oder im Interieur, so hat er schliesslich ein
natürliches Auge wiedererlangt, sieht wieder natür-
lich und malt unbefangen so wie er sieht. Ich er-
kläre mich genauer:
Abstrahiert man von den beiden Kunstillu-
sionen, den beiden Kriterien, von denen die Aest-
hetiker so viel geredet haben, ich meine die abso-
lute Schönheit und den absoluten Kunstgeschmack
des Menschen, so bleiben noch drei unüberwind-
bare Illusionen, auf welche sich die Maltechniker
immer gestützt haben: Zeichnung, Perspektive,
Atelierbeleuchtung. Diesen drei Anschauungs-
weisen, die durch Gewohnheit schon zur zweiten
Natur geworden sind, entsprechen die drei Mo-
mente der Entwicklung, welche die impressionisti-
sche Formel ausmachen: die Form wird nicht
durch den gezeichneten Kontur, sondern einzig durch
die Schwingungen und Kontrastwirkungen der
Farbe wiedergegeben; die theoretische Perspektive
wird ersetzt durch die natürliche Perspektive der
Schwingungen und Farbenkontraste; das Atelier-
licht (ich meine die Thatsache, dass an einem Bilde
im gleichförmigen Atelierlicht und zu jeder Tages-
zeit gearbeitet wird, mag es nun eine Strasse, eine
Landschaft oder einen erleuchteten Salon darstellen)
wird ersetzt durch das Plein Air, d. h. das Bild
wird, so schwierig dies auch sein mag, wirklich
vor seinem Objekt gemalt, und zwar in möglichst
kurzer Zeit, in Anbetracht der raschen Veränder-
lichkeit der Beleuchtung. Diese drei Verfahren,
die wie Philologenregeln für gestorbene Sprachen
sind, die man dem Schülerverständnis erleichtern
will, werden nun durch die einzige Quelle des
Lichtspiels ersetzt — das Leben.
Die Zeichnung ist ein eingewurzeltes, hart-
näckiges Vorurteil, dessen Herkunft in den frühesten
Erfahrungen menschlicher Empfindung zu suchen
ist. Da das Auge nur das weisse Licht mit seinen
ungebrochenen Schatten kannte, also in seinen Er-
fahrungen keineswegs durch das Hülfsmittel der
unterschiedlichen Farbgebungen unterstützt wurde,
half es sich ursprünglich durch die Erfahrungen des
Tastsinns. Dann ging, durch die gewohnheits-
mässige Verknüpfung wechselseitiger Hülfe und
durch Vererbung der erworbenen Modifikationen
zwischen Tast- und Sehorgan, der Formensinn von
den Fingern in das Auge über. Die festumrissene
Form rührt ursprünglich nicht vom Sehvermögen
her, und das Auge hat erst allmählich durch Raffi-
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VON
JULES LAFORGUE
PHYSIOLOGISCHER URSPRUNG DES IMPRESSIONISMUS
DAS VORURTEIL DER KONTURZEICHNUNG
lENN die Thätigkeit des Malers
vom Verstand und von der Seele
ausgeht, so geschieht dies doch
nur vermittelst des Auges, und
das Auge bedeutet also in der Malerei ganz dasselbe,
wie das Ohr in der Musik. Dieses zugegeben, so ist
der Impressionist der moderne Maler, begabt mit
einer aussergewöhnlichen Empfindlichkeit des Auges;
er vergisst die Gemälde, die sich durch Jahrhunderte
in den Museen angehäuft haben, er vergisst die schul-
mässige Erziehung des Auges (Zeichnung, Perspek-
tive und Kolorit), und weil er im Spiel der Lichter
im Freien lebt und unbefangen und naiv sieht, d. h.
ausserhalb eines im Winkel von 45 ° erleuchteten
Ateliers; sei es nun auf der Strasse, in der Land-
schaft oder im Interieur, so hat er schliesslich ein
natürliches Auge wiedererlangt, sieht wieder natür-
lich und malt unbefangen so wie er sieht. Ich er-
kläre mich genauer:
Abstrahiert man von den beiden Kunstillu-
sionen, den beiden Kriterien, von denen die Aest-
hetiker so viel geredet haben, ich meine die abso-
lute Schönheit und den absoluten Kunstgeschmack
des Menschen, so bleiben noch drei unüberwind-
bare Illusionen, auf welche sich die Maltechniker
immer gestützt haben: Zeichnung, Perspektive,
Atelierbeleuchtung. Diesen drei Anschauungs-
weisen, die durch Gewohnheit schon zur zweiten
Natur geworden sind, entsprechen die drei Mo-
mente der Entwicklung, welche die impressionisti-
sche Formel ausmachen: die Form wird nicht
durch den gezeichneten Kontur, sondern einzig durch
die Schwingungen und Kontrastwirkungen der
Farbe wiedergegeben; die theoretische Perspektive
wird ersetzt durch die natürliche Perspektive der
Schwingungen und Farbenkontraste; das Atelier-
licht (ich meine die Thatsache, dass an einem Bilde
im gleichförmigen Atelierlicht und zu jeder Tages-
zeit gearbeitet wird, mag es nun eine Strasse, eine
Landschaft oder einen erleuchteten Salon darstellen)
wird ersetzt durch das Plein Air, d. h. das Bild
wird, so schwierig dies auch sein mag, wirklich
vor seinem Objekt gemalt, und zwar in möglichst
kurzer Zeit, in Anbetracht der raschen Veränder-
lichkeit der Beleuchtung. Diese drei Verfahren,
die wie Philologenregeln für gestorbene Sprachen
sind, die man dem Schülerverständnis erleichtern
will, werden nun durch die einzige Quelle des
Lichtspiels ersetzt — das Leben.
Die Zeichnung ist ein eingewurzeltes, hart-
näckiges Vorurteil, dessen Herkunft in den frühesten
Erfahrungen menschlicher Empfindung zu suchen
ist. Da das Auge nur das weisse Licht mit seinen
ungebrochenen Schatten kannte, also in seinen Er-
fahrungen keineswegs durch das Hülfsmittel der
unterschiedlichen Farbgebungen unterstützt wurde,
half es sich ursprünglich durch die Erfahrungen des
Tastsinns. Dann ging, durch die gewohnheits-
mässige Verknüpfung wechselseitiger Hülfe und
durch Vererbung der erworbenen Modifikationen
zwischen Tast- und Sehorgan, der Formensinn von
den Fingern in das Auge über. Die festumrissene
Form rührt ursprünglich nicht vom Sehvermögen
her, und das Auge hat erst allmählich durch Raffi-
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