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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,4.1916

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1916)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Deutsche Mode oder deutsche Typentracht?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14294#0173

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jedem von einem 70-Millionenvolk seine individuelle Iacke werde. Um
Massen zu bekleiden, brauchen wir die Massenherstellung, nnd für diese
die einheitlichen Muster." Auch im weiteren Verlaufe wird so gesprochen,
als ob Mode und Einheitsform der Kleidung ohne weiteres dasselbe
wäre. Mir scheint, da liegt ein Grundirrtum Gertrud Bäumers und
zahlreicher anderer. In unserm Zusammenhange liegt der Gegensatz nicht
so: hier Einheitsform, dort individuelle Tracht. Sondern so: hier unzweck-
mäßige, aber dem Geschäft einträgliche Einheitstracht, dort zweckmäßige
Einheitstracht, sagen wir: „Typentracht^. Massenherstellung brauchen wir
für beide.

Was wir unter Tracht der Mode verstehn, darüber sind wir uns
wohl einig. Heute der stoffverschwendende Faltenrock, gestern der eng
anliegende, gestern der schirmartige Riesenhut, heute das balancierende
Kopfnäpfchen, gestern vernünftige, heute Stöckelschuhe, gestern die Schleppe,
heute das kurze Kleidchen, gestern das „Plastische", heute das Platte.
„Wünschen Sie zu lang oder zu kurz?" Oberster Grundsatz: alles von
gestern ist fad, alles von heute ist himmlisch bis morgen, wo es fad wird.
Also: immer was andres, immer „Nouveaute".

Und was verstehen wir unter Typentracht? Das nächstliegende
Beispiel wäre die Uniform, da aber die nicht Gegenstand freier Wahl ist,
so wollen wir zunächst von ihr absehn. Andre Beispiele: die Berusstrach-
ten, die Arbeitstrachten, die Sporttrachten. Der Metallarbeiter, der tzolz-
arbeiter, der Stubenmaler, der Radfahrer, der Turner, das Hausmädchen,
die Pflegeschwester und eine Menge andrer, die irgendeine Beschästigung
berufsmäßig ausüben, haben Typentrachten ausgebildet. Aber auch die
Reisetracht ist fast schon Typentracht geworden, wo sie nicht, wie die schön
so genannten „Dirndl-Kostüme" spielerisch, sondern zweckmäßig für wirk-
lichen Reisegebrauch hergestellt und gewählt ist. Ebenso haben wir ja
Gartenkleider und Straßenkleider. Sie sind desto weniger Mode- und desto
mehr Typenkleider, je mehr sie dem besondern Zwecke nicht nur vorgeblich,
sondern wirklich dienen. Der individuelle Geschmack mit seinen Anpassun-
gen wie mit seinen Ermüdungserscheinungen und Wechselreizen kann sich
auch hier geltend machen*

Moden- wie Typentracht stehn unter den gleichen menschlichen Be-
dingungen. Aber es ist etwas anderes, ob wir den geschlechtlichen Werbe-
reiz im Kleide der jungen Mädchen aus Geschäftsgründen künstlich her-
ausarbeiten oder so weit walten lassen, wie das von selber kommt, etwas
anderes, ob wir die Ermüdungserscheinungen an einer Form und Farbe
von sich aus zum Wechsel führen oder des flotteren Amsatzes halber weit
schneller als nach dem natürlichen Bedürfnis eintreten lassen. And es ist
auch etwas anderes, ob wir als erziehende Konsumenten beim Konflikt
mit wichtigen Zeiterfordernissen, wie jetzt der Stoffersparung, die Sünden

* Auch innerhalb der heutigen Frauenbewegung hat diese Auffassung begabte
und arbeitsame Vertreterinnen. Ihr Organ ist die Zeitschrift „Neue Frauen-
kleidung und Frauenknltur" (Karlsruhe, Braunsche Hofbuchdruckerei), die wir
nochmals sehr der Beachtung empfehlen. A

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