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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,4.1916

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1916)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm: Wohltätigkeit und Staat
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https://doi.org/10.11588/diglit.14294#0219

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Wohltätigkeit und Staat

<rt das Geldeinsammeln „für wohltätige Zwecke^, das heute tausenh
Vereinigungen und Vereine betreiben, und das flüchtige, oft rnür-
rische Geldhergeben dafür mit wirklicher Wohltätigkeit viel zu schaffen?

Was heißt denn wohltun? Gibt es ein Wohltun blind ins Unbekannte
hinaus? Opfern, ja, irgend etwas opfern, kann ich für eine gute Sache.
Wohltun aber kann ich immer nur jemandem. Da sehe ich einen
Menschen in schwerem Daseinskampf, eine Familie, eine Volksschicht.
Die Not und das Leid dringen mir mit Sehen und Hören ins eigne Herz.
And von da strömt es leise ins Denken hinauf: wodurch entftand denn
jene Not und jenes Leid? Durch die Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit,
Selbstsucht der andern Menschen. Auch durch meine eigne Gleichgültigkeit
und Selbstsucht, da ich mich nie um jene elenden Menschen gekümmert
habe, nie daran gedacht habe, ihnen zu helfen. Mir dämmern die Schuld-
zusammenhänge aus, die alle Menschen untereinander verbinden, das weite
Feld der Schuldverkettung von Mensch zu Mensch wird meinen Blicken
immer deutlicher. Nnd dieses Gesicht erweckt in mir selbst ein tieferes
Schüldgefühl und Schuldbewußtsein. Das Gewissen erwacht, nicht jene
bloße gutmütige Reaktion eines raschen Mitleids, das man auch wohl
so nennt, sondern das echte Gewissen. Der innerste Lebensnerv der Seele
zuckt verwundet. Nnd von dort aus geht nun ein unwiderstehlicher Drang,
den andern zu helfen. Den andern? Ach, ich weiß ja wohl, ausschöpfen
kann ein einzelner nicht das Meer von Schlechtigkeit, ins Gute richten
nicht den morschen Riesenbau der schlechten Zustände. Es ist auch wahrlich


I. Septemberheft 1916 (XXIX, 23)

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