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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 3.1928

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Wichert, Fritz: Max Beckmann: und einiges zur Lage der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.13709#0356

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nis aufzuschließen, die sich Jahr um Jahr
haben zerfetzen lassen von den Wider-
sprüchen individualistischen Gestagens,
verdichtet sich innerer Widerstand zu der
Erkenntnis, daß Wesen, Seele und Wert
einer Kunstschöpfung auch durch die ge-
schickteste Zergliederung nicht zu fassen
sind. Unheimlich viel ist über Kunst ge-
sprochen worden. Bis zur vollkommenen
Verdunstung hat man die analytischen Be-
griffe verfeinert und zugespitzt. Man hat
das Gefühl, als sei alles gesagt und als
könne Neues nur noch mit Schraubwerk
und Zangen herausgepreßt werden. Die
Analyse fängt an, zum Verhängnis unseres
Kunstlebens zu werden, ganz so, wie das
Bestreben der Künstler, auf formalisti-
schem Wege zur Qualität zu gelangen, die
Kunst vom Leben abzuschneiden droht.

Aber es gibt vielleicht eine Möglichkeit,
dem Verhängnis zu entrinnen. Was ent-
scheidet, ist immer die Ganzheit, ist der Be-
griff der Gestalt als eines unzerlegbaren, nur
als Ganzes faßbaren Teiles der Wirklich-
keit. So lehrt es die neue Gestaltphiloso-
phie : die Melodie ist etwas wesentlich ande-
res als die Töne, aus denen sie sich zusam-
mensetzt. Auch die noch so fein empfun-
dene Aufspürung der Beziehung einzelner
Teile zueinander und der Wirkungsweise
solcher Beziehungen läßt in uns noch nicht
das entstehen, was das Erlebnis der Gesamt-
gestalt als unzertrennbare Einheit an Emp-
findung, Beseligung, Tiefensturz und Ver-
klärung wachruft. Hier bietet sich vielleicht
ein Weg ins Freie. Das Werk eines großen

Künstlers ist geheimnisvolle Gestalt, nicht
analytisches Objekt, und auch der Gesamt-
verlauf eines schöpferischen Daseins ist in
solchem Sinne Gestalt. Erkenntnis dieser
Art könnte zu einer gänzlich verwandelten,
mehr auf Ahnung und Glauben als auf wis-
senschaftlicher Durchforschung begründe-
ten Kunsterfassung führen, und im Zusam-
menhang damit ergibt sich als weitere For-
derung, daß wir wieder lernen müssen, bei
der Betrachtung und Ausschöpfung von
Kunstwerken vom Gegenständlichen auszu-
gehen. Kein Mensch ist imstande, Vorstel-
lungen zu gestalten, die nicht sein Wesen
verraten. Die kleinste Bewegung einer
Hand, eines Fingers, Ausdruck der Augen,
des Mundes, welchen Teil der körperlichen
Erscheinung man auch wählt, die mensch-
liche Qualität des Schöpfers läßt sich nicht
verleugnen, und unabweisbar hat sie als
Voraussetzung für die künstlerische zu gel-
ten. Der Einwand, daß die gegenständliche
Belrachtungsweise am Eigentlichen des
Kunstwerks, dem formalen Gehalt vorbei-
gehe, ist nicht begründet, im Gegenteil, je
naiver und frischer wir uns dem Gegenstand
verbinden, ihn zu unserer Vorstellung
machen, desto reiner und tiefer entfaltet
sich in uns die Kraft der formalen Elemente.
Diese Art der Annäherung an das aus gei-
stigem Schoß Erwachsene will allerdings
geübt sein und müßte tausend- und hundert-
tausendfältig geübt werden, wenn die Zeiten
sich entwirren und gegenständliche Kunst-
werke wieder menschheil bildende Kraft
entfallen sollen. F. Wiehert

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