STIMMEN ZUR WERKBUNDTAGUNG
Gedanken zur Tagung
Warum sind die Beurteilungen dessen, was
heute auf architektonischem Gebiet geschaffen
wird, so grundverschieden voneinander, so kontra-
diktorisch entgegengesetzt'? Es geht nicht an, den
Beurleilern, je nachdem sie dem eigenen Stand-
punkt mehr oder minder gerecht werden, Unver-
ständnis, Unkenntnis der in Frage stehenden Bau-
werke, falsche Einstellung oder ähnliches vorzu-
werfen. Die Gründe lieaen tiefer.
Zunächst: Für eine ästhetisch wertende Beur-
teilung des neuen Stils ist es noch zu früh. Wohl
kann man eine solche jederzeit für ein einzelnes
Werk wagen. Keineswegs aber über einen Stil,
über die Gesamtheit einer mit ähnlichen Merk-
malen behafteten Reihe von Werken, wenn die-
ser „Stil" erst wenige Jahre alt ist und man noch
unmöglich beurteilen kann, wieweit die in ihm
wirkenden Kräfte auf dem We<;e ihrer Enlwick-
lung sind.
Der Hauptgrund für die entgegengesetzten Ur-
teile scheint mir nicht in der Beschaffenheit der
voneinander sehr verschiedenen Werke, sondern
im Charakter der Zeit zu liegen. Und gerade in
deren soziologischer Struktur, von der, seltsam ge-
nug, der Soziologe Alfred Weber am wenigsten
ausführlich sprach. Wunderbar klar und wesen-
haft war seine Charakterisierung dieser Zeit im
Gegensatz zur jüngsten Vergangenheit: die Raum
und Zeit überwindenden Wunder der Technik und
die daraus resultierenden völlig neuen Beziehun-
gen der Erdbewohner zueinander und zu ihrem
Einzelraum (Heimat, Land usw.) ließ er eindring-
lich bewußt werden, aber das für unsere Frage
sehr wesentliche Problem berührte er kaum: den
soziologischen Übergangscharakler dieser Zeit: das
mit der Kultur der "V ergangenheit verbundene und
seine Errungenschaften beanspruchende Bürger-
tum einerseits, anderseits die Arbeiterklasse und
alle mit ihr in der bewußten Ablehnung der kul-
turbelasteten Vergangenheit und der starken Be-
jahung einer unbelasteten Gegenwart mitgehen-
den Intellektuellen und Schaffenden. Und in den
mit ähnlichen Lebens- aber sehr verschiedenen
Kulturbedürfnissen behafteten nebeneinander be-
stehenden sozialen Schichten, die heute etwa zu
gleichen Teilen Auftraggeber der Architekten sind,
sehe ich den entscheidenden Grund der entgegen-
gesetzten Urteile über die heutige Baukunst.
Selbstverständlich ist der Architekt selbst ein
Übergangswesen, kommend aus bürgerlicher Kul-
turverbundenheit von gestern, in starker Gegen-
wartsbejahung aber tendierend nach völliger Un-
belasletheit einer morgigen Menschheit.
Da liegen die inneren Spannungen, da die
Quelle der verschiedenen Beurteilungen. Bei jedem
in Frage kommenden Schaffenden sind die Kräfte
und Tendenzen des Gestern und Heute (der noch
lebendigen bürgerlichen Kulturwesenheiten und
der nach neuer, freier Gestalt ringenden, in die
neue Schicht a priori hineinprojizierlen Gegen-
wartstendenzen), bei jedem Schaffenden also sind
beide Kräftepaare vorhanden, und zwar bei jedem
in verschiedener Mischung. Bei den Jüngsten und
den Spekulativen will das Heute ganz rücksichtslos
allein Gestalt gewinnen, bei den Älteren ringt er-
worbenes Gestern stärker und zäher mit erkann-
tem Heule. Und genau so gellt's den Beurleilern.
So ist also eine Übereinstimmung weder im Schaf-
fen noch im Werten heule unmöglich.
An einem charakteristischen Beispiel sei dies
erörtert, an Le Corbusier. Mit Recht gilt er als
Repräsentant heuligen Architekturschaff'ens. Aber
während die einen in ihm den nüchternen, form-
losen Konstruktivislen sehen, erklären ihn die
anderen für einen hoffnungslosen Romantiker.
Und erhitzen sich abwechselnd tadelnd oder ver-
himmelnd über die eine oder andere Reurlcilung.
Und dabei geht es wie im deutschen Reichstag zu,
wo die äußerste Linke mit der äußersten Rechten
plötzlich zusammengeht, um Sturm zu laufen
gegen die wirkliche Gestalt der Zeit. Die Allen
sehen in ihm den zielbewußten Ycrnichler über-
kommener Werte, die Jüngsten aber schimpfen
über seine Romantik und seinen Formalismus.
Und jeder hat von seinem Standpunkt und sei-
ner Zielrichtung, von seiner Mischung gestriger
und heuliger soziologischer Werlskalen bedingt
recht.
Aber es wäre an der Zeit, die wahren Ursachen
dieser Gegensätzlichkeit zu erkennen und die Enl-
wicklung nicht durch zu viel Reden von Haß oder
Liebe zu trüben und zu verwirren. Die starken
Kräfte werden ja trotzdem ihren Weg gehen, weil
im schöpferischen Menschen zwangsläufig die Ge-
stalt der Zeit sich verwirklicht. Doch da die
Lösung von Architekturaufgaben heute nicht nur
Angelegenheit der begnadeten Persönlichkeit, son-
dern zum größten Teil soziale Bedürfnisfrage ist,
so wäre eine kritische Klärung namentlich im
Rahmen des D. W. B. sehr wichtig.
Dazu einige Anregungen. Man gewöhne sich
den Vergleich zwischen reinem Ingenieurbau und
technischen Bauten einerseits, Wohnungs- und
Großbau anderseits ab. Man rühme niclit die
Zweckhaftigkeil eines Baues als höchste Erfüllung
der Lösung. Denn sie ist nur die Voraussetzung,
die notwendig erfüllt werden muß. Ein Bau, der
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Gedanken zur Tagung
Warum sind die Beurteilungen dessen, was
heute auf architektonischem Gebiet geschaffen
wird, so grundverschieden voneinander, so kontra-
diktorisch entgegengesetzt'? Es geht nicht an, den
Beurleilern, je nachdem sie dem eigenen Stand-
punkt mehr oder minder gerecht werden, Unver-
ständnis, Unkenntnis der in Frage stehenden Bau-
werke, falsche Einstellung oder ähnliches vorzu-
werfen. Die Gründe lieaen tiefer.
Zunächst: Für eine ästhetisch wertende Beur-
teilung des neuen Stils ist es noch zu früh. Wohl
kann man eine solche jederzeit für ein einzelnes
Werk wagen. Keineswegs aber über einen Stil,
über die Gesamtheit einer mit ähnlichen Merk-
malen behafteten Reihe von Werken, wenn die-
ser „Stil" erst wenige Jahre alt ist und man noch
unmöglich beurteilen kann, wieweit die in ihm
wirkenden Kräfte auf dem We<;e ihrer Enlwick-
lung sind.
Der Hauptgrund für die entgegengesetzten Ur-
teile scheint mir nicht in der Beschaffenheit der
voneinander sehr verschiedenen Werke, sondern
im Charakter der Zeit zu liegen. Und gerade in
deren soziologischer Struktur, von der, seltsam ge-
nug, der Soziologe Alfred Weber am wenigsten
ausführlich sprach. Wunderbar klar und wesen-
haft war seine Charakterisierung dieser Zeit im
Gegensatz zur jüngsten Vergangenheit: die Raum
und Zeit überwindenden Wunder der Technik und
die daraus resultierenden völlig neuen Beziehun-
gen der Erdbewohner zueinander und zu ihrem
Einzelraum (Heimat, Land usw.) ließ er eindring-
lich bewußt werden, aber das für unsere Frage
sehr wesentliche Problem berührte er kaum: den
soziologischen Übergangscharakler dieser Zeit: das
mit der Kultur der "V ergangenheit verbundene und
seine Errungenschaften beanspruchende Bürger-
tum einerseits, anderseits die Arbeiterklasse und
alle mit ihr in der bewußten Ablehnung der kul-
turbelasteten Vergangenheit und der starken Be-
jahung einer unbelasteten Gegenwart mitgehen-
den Intellektuellen und Schaffenden. Und in den
mit ähnlichen Lebens- aber sehr verschiedenen
Kulturbedürfnissen behafteten nebeneinander be-
stehenden sozialen Schichten, die heute etwa zu
gleichen Teilen Auftraggeber der Architekten sind,
sehe ich den entscheidenden Grund der entgegen-
gesetzten Urteile über die heutige Baukunst.
Selbstverständlich ist der Architekt selbst ein
Übergangswesen, kommend aus bürgerlicher Kul-
turverbundenheit von gestern, in starker Gegen-
wartsbejahung aber tendierend nach völliger Un-
belasletheit einer morgigen Menschheit.
Da liegen die inneren Spannungen, da die
Quelle der verschiedenen Beurteilungen. Bei jedem
in Frage kommenden Schaffenden sind die Kräfte
und Tendenzen des Gestern und Heute (der noch
lebendigen bürgerlichen Kulturwesenheiten und
der nach neuer, freier Gestalt ringenden, in die
neue Schicht a priori hineinprojizierlen Gegen-
wartstendenzen), bei jedem Schaffenden also sind
beide Kräftepaare vorhanden, und zwar bei jedem
in verschiedener Mischung. Bei den Jüngsten und
den Spekulativen will das Heute ganz rücksichtslos
allein Gestalt gewinnen, bei den Älteren ringt er-
worbenes Gestern stärker und zäher mit erkann-
tem Heule. Und genau so gellt's den Beurleilern.
So ist also eine Übereinstimmung weder im Schaf-
fen noch im Werten heule unmöglich.
An einem charakteristischen Beispiel sei dies
erörtert, an Le Corbusier. Mit Recht gilt er als
Repräsentant heuligen Architekturschaff'ens. Aber
während die einen in ihm den nüchternen, form-
losen Konstruktivislen sehen, erklären ihn die
anderen für einen hoffnungslosen Romantiker.
Und erhitzen sich abwechselnd tadelnd oder ver-
himmelnd über die eine oder andere Reurlcilung.
Und dabei geht es wie im deutschen Reichstag zu,
wo die äußerste Linke mit der äußersten Rechten
plötzlich zusammengeht, um Sturm zu laufen
gegen die wirkliche Gestalt der Zeit. Die Allen
sehen in ihm den zielbewußten Ycrnichler über-
kommener Werte, die Jüngsten aber schimpfen
über seine Romantik und seinen Formalismus.
Und jeder hat von seinem Standpunkt und sei-
ner Zielrichtung, von seiner Mischung gestriger
und heuliger soziologischer Werlskalen bedingt
recht.
Aber es wäre an der Zeit, die wahren Ursachen
dieser Gegensätzlichkeit zu erkennen und die Enl-
wicklung nicht durch zu viel Reden von Haß oder
Liebe zu trüben und zu verwirren. Die starken
Kräfte werden ja trotzdem ihren Weg gehen, weil
im schöpferischen Menschen zwangsläufig die Ge-
stalt der Zeit sich verwirklicht. Doch da die
Lösung von Architekturaufgaben heute nicht nur
Angelegenheit der begnadeten Persönlichkeit, son-
dern zum größten Teil soziale Bedürfnisfrage ist,
so wäre eine kritische Klärung namentlich im
Rahmen des D. W. B. sehr wichtig.
Dazu einige Anregungen. Man gewöhne sich
den Vergleich zwischen reinem Ingenieurbau und
technischen Bauten einerseits, Wohnungs- und
Großbau anderseits ab. Man rühme niclit die
Zweckhaftigkeil eines Baues als höchste Erfüllung
der Lösung. Denn sie ist nur die Voraussetzung,
die notwendig erfüllt werden muß. Ein Bau, der
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